maandag 8 december 2025

Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH Aus seinem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes Wajéschew

 


Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH

              (1833 – 1900)

 

הפטרה פרשת וישב

Aus seinem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes Wajéschew

 

Unsere Prophetenstelle schließt sich unmittelbar an die beiden vorhergehenden Versen gegebene Bezeichnung der Verirrungen und Zustände im Reiche Juda. Es wird die große Wahrheit in furchtbarer Eindringlichkeit gelehrt, daß eine Zerfällung des Gesetzes des allmächtigen Gottes in Pflichten gegen Gott und Pflichten gegen den Nebenmenschen auf dem Boden der jüdischen Wahrheit keine Stelle habe. Wer glaubt eine Auswahl treffen, und entweder dem fälschlich sogenannten spezifisch religiösen oder dem mehr sozialen Gebiete des Gesetzes mit Hinteransetzung des anderen erhöhte Bedeutung beimessen zu dürfen, der verlässt damit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch den Boden des Gesetzes. Und zwar verlässt er ihn vollständig. Er gibt nicht nur den Teil preis, den er, sei es in vermeintlich „prinzipielle Überzeugung“ oder sans phrase in praktischer Betätigung verleugnet, sondern auch denjenigen Teil, dem er noch die Treue zu bewahren vermeint.

In Juda glaubte man, mehr die מצות שבין אדם למקום betonen und es dafür mit der strikten Erfüllung derמצות שבין אדם לחברו  nicht so nehmen zu dürfen. Der Tempel ragte, des Opferdienstes wurde gepflegt, die Tempelhallen waren gefüllt, Sabbat und Festtage wurden gefeiert und die Speise- und Reinheitsgesetze fanden sorgsame Beachtung. So schien es. In dem aufgeklärten, mit den Wahnvorstellungen der verschiedenen umwohnenden heidnischen Völker durchtränkten Jissroél war es umgekehrt. Dort hatte man in mehr oder minder bewusster Grundsätzlichkeit das spezifisch Jüdische abgestreift, den חקים, den Speise- und Reinheitsgesetzen in den herrschenden Kreisen hohnlachend den Rücken gekehrt, und nur die משפטים, die das bürgerliche Leben, das Verhalten des Menschen zum Nebenmenschen regelnden Gesetze im Prinzip aufrechtgehalten. Über beide Reiche, Juda wie Jissroél, verkündet das Prophetenwort in Namen Gottes den durch ihre Taten heraufbeschworenen Untergang. Und da ist’s nun so ungemein charakteristisch und für alle Zeiten lehrreich: Juda dem vermeintlich frommen, wird trotz seiner Opfer, seiner Gebete und seiner Sabbatfeier, der furchtbare Vorwurf entgegengeschleudert, daß „sie die Thora Gottes verachtet“ und seine חקים, gerade die Speise- und Reinheitsgesetze, nicht gehütet hätten!– Und Jissroél? Kein Wort des Vorwurfs wegen des verschmähten Tempels, wegen der entweihten Sabbat- und Festtage, wegen der nicht beachteten Speisegesetze. Wohl aber wird ihm ein Spiegel vorgehalten, aus dem ihm ein Nachtbild unsäglicher Verkommenheit, einer vollständigen Fäulnis aller rein menschlichen Verhältnisse in Staat und Familie entgegenstarrt. Erstorben alles Rechtsgefühl, erstorben alle Menschlichkeit, bis zur vollendeten Tierheit erstorben alle Scham (V.7). Der Habsucht der Grossen bietet eine feile Beamtenschaft bereitwillig die Hand mit Missbrauch der Formen des Rechtes zur Ausübung schnödester Gewalt gegen die wirtschaftlich Schwachen, und – zu all diesem Jammer spendet eine gesinnungs- und herzlose Geistlichkeit, die würdigen Diener einer Religion ihrer Mache, bereitwillig ihren Segen. Zerstörung des Staates, Entziehung all der Güter, deren Missbrauch zu dieser Entartung führte, war die einzige Rettung der „Jissroél-Familie“ (Kap. 3, 1) Während das Sidra-Wort uns die seinen Fäden der höheren Waltung zeigte, die den Zug der Jakobsfamilie ins ägyptischen Galuth vorbereiteten, auf daß sie dort in Leid zum Gottesvolke erstarke: eröffnet das Prophetenwort einen Einblick in die Verhältnisse, die die Wiederkehr der entarteten Jissroéls-familie zum Jakobsgeschick, ihre Hinausweisung ins Exil auf die lange bange Galuthwanderung durch die Jahrhunderte zur unausbleiblichen Folge haben, für deren Abwendung es nur die eine Möglichkeit gab, daß der Posaunenruf des drohenden Gottesgerichtes, der aus dem ernsten Mahnworte des Propheten ihnen entgegentönt; doch noch die Sperre ihres Herzens sprenge, sie ihrem besseren Selbst zurückgebe, und sie so zu aufrichtiger und dauernder Aufkehr zu Gott sich ermannen.

 Kap.3, 6 Wenn aber der Schofar in der Stadt erschallt, da hätte das Volk nicht zu erbeben? Wenn Unglück sich ereignet in der Stadt, da hätte es Gott nicht bereitet?

7. Denn mein Herr, der seine Liebe als Rechtswaltung offenbarende Gott tut nichts, er habe denn seinen Ratschluss offenbart seinen Dienern, den Propheten.

 8. Der Löwe hat gebrüllt – wer hätte nicht zu fürchten! Mein Herr, der seine Liebe als Rechtswaltung offenbarende Gott hat gesprochen – wer würde da nicht Prophet! –

 V.6 Wenn aber der warnende, mahnende Schauforruf Gottes in der Stadt ertönt, der Ruf des allmächtigen Gottes, der euer Geschick in Händen hat und der für euch als Folge der Schuld das Unglück festgesetzt hat, da könntet, dürftet ihr weiter ruhig in den Tag hinein leben, hättet nicht aus diesem Posaunenrufe das löwengewaltig euch drohende Geschick bebend zu erkennen und euch zur Verbesserung aufraffen? Und wenn des Schaufors Stimme unbeachtet verhallte und nun das Verhängnis über die Stadt hereingebrochen ist, mag dies nun in seiner äußeren Verwirklichung durch Feindesmacht, durch innere Zerrüttung oder durch Naturgewalten sich vollziehen: da bestände kein innerer Zusammenhang zwischen ihm und dem unbeachtet gebliebenen Gottesruf? Da wäre es ein bloßer Zufall, Raubgier der Feinde, oder physische Verhältnisse, und es wäre nicht Gott, der diese Verhältnisse gerade so gelenkt hätte, wie es der Vollstreckung seines Willens entsprach?

V.7 Denn das Prophetenwort ist der Schauforruf Gottes.

V.8 Nun, der ernste, mahnende und warnende Ruf des allmächtigen Gottes ist an euch gedrungen, wer hätte da nicht zu fürchten? Gott, und zwar אדני, der den Propheten sendet, und der vierbuchstabige Gottesname, der מדת הרחמים mit der Vokalisierung אלהים, מדת הדין vereinigt, der also den barmherzigen, stets zur Spende neuen Seins und neuer Kraft bereiten Gott als denjenigen bezeichnet, der diese seine Liebe im gegenwärtigen Augenblicke als waltende Gerechtigkeit offenbaren müsse – also ד' א' hat gesprochen – wer wäre jetzt nicht Prophet! Wer könnte jetzt nicht mit Bestimmtheit das Hereinbrechen unheilvoller Verhängnisse verkünden, wenn sein Wort unbeachtet bleibt!

 (Die Haftoroth übersetzt und erläutert, Frankfurt am Main 1896: S. 76-85  Kommentar zu Amos Kap 2, V6 bis  Kap 3, V.8) 

zondag 7 december 2025

Hinweis

Rabbiner Dr. Salomon BREUER

                (1850 – 1926)

 

וישב

 

Belehrung und Mahnung  zur Wochenabschnitt WAJÉSCHEW (Auszug)

 

https://jesjoeroen.blogspot.com/2022/12/belehrung-und-mahnung-wajeschew.html

 

Rabbiner Dr. Salomon BREUER Belehrung und Mahnung zur Wochenabschnitt WAJISCHLACH (2. Teil)

 


Rabbiner Dr. Salomon BREUER

                (1850 – 1926)

 

וישלח

 

Belehrung und Mahnung  zur Wochenabschnitt

WAJISCHLACH (2. Teil) 

Solange wir nicht den Mut haben, in unserem Leben die Forderungen der jüdische Wahrheit zur Verwirklichung zu bringen, solange sind wir noch weit von jenem Ziele entfernt, dessen Verwirklichung unserem Stammvater Jakob in jener Nacht zum denkwürdigen Erlebnis geworden war.

Erst wenn ויותר יעקב לבדו wir einer nichtjüdischen Welt durch unsere jüdische Persönlichkeit allein zu imponieren vermögen, erst wenn ויברך אותו שם sie uns, auch wenn wir arm sind an Gütern, deren Glanz das Auge zu blenden pflegt, die segnende Anerkennung zollt, sie in uns den Juden achtet und ehrt, das Judentum in alle seine Forderungen in unserem Leben zu umfassender Verwirklichung und vor den Augen einer ganzen Welt in seiner Achtung gebietenden Hoheit dasteht, dann ist auch der Weg zu jenem hehren Endziel gebahnt, daß auch Gott ונשגב ה' לבדו in dem Bewusstsein einer geläuterten und geadelten Menschheit in unmittelbarer Anschauung zur huldigenden Anerkennung gelangt.

הצילנו נא מיד אחי מיד עשו „Rette mich doch von der Hand meines Bruders, von Esaws Hand, כי ירא אנכי אתו denn ich fürchte ihn“: das ist der Golus-Angstschrei unseres Stammvaters: nicht מיד אחי עשו sondern מיד אחי מיד עשו! Er fürchtet die Bruderhand, er fürchtet Esaws Hand: er fürchtet die raue Esawhand, daß sie ihn körperlich vernichten, mehr aber, in erster Reihe zittert er vor der warmen Bruderhand, daß sie ihn geistig-sittlich verderben könnte. –

Und wie hat dieser Angstschrei in der Folge im Leben der Nachkommen seine Berechtigung erhalten! Die raue Eswushand konnte uns trotz aller schwerer Drangsal, die sie uns bereitete, in unserem jüdischen Lebensberuf nicht schwankend machen: mutig und stark hielten wir auf dem Posten aus, auf den Gott uns gestellt hatte. Doch was die raue Esawshand nicht vermocht, hat der warme, brüderliche Händedruck Esaus leicht fertig gebracht. אל תראני שאני שחרחרת „Seht mich nicht so an, weil ich so dunkel bin, ששזפתני השמש denn die Sonne hat mich gebräunt“ (Hoh. 1,6). In der finsteren Golus-Nacht habe ich mich herrlich bewährt, doch die Glückssonne hat mich geschwärzt! –

Mahnend und warnend für alle Folgezeit tritt daher auch dieses für die Geschichte des jüdischen Volkes so bedeutsame Moment aus dem nächtlichen Erlebnis unseres Stammesvaters geradezu sinnfällig uns entgegen. וירא כי לא יכל לו וגו' ותקע כף ירך יעקב בהאבקו עמו. Indem er mit ihm rang, während des Ringens wich Jakobs Hüftballen, ward er verletzt, doch die Verletzung hinderte ihn nicht, den Kampf fortzusetzen und siegreich zu beenden – בהאבקו עמו er ward nicht schwankend, hielt mutig aus – ויקרא יעקב שם המקום פניאל וגו' ותנצל נפשי . Sein Wesen blieb unverletzt! Doch ויזרח לו השמש als die Sonne aufging – והוא צלע על ירכו da hinkte er!

Was sich hier an Jakob körperlich vollzog, das hat sich in der Geschichte seiner Nachkommen in ideeller Beziehung verwirklicht! מעשה אבות סימן לבנים

In heißen Kampf mir Esaws Macht konnten wir nicht schwankend gemacht werden, wir behaupteten trotz schwerer Verletzung standhaft und fest unseren Standpunkt; so oft uns jedoch die Sonne aufging, והוא צלע על ירכו hinkten wir, sind wir schwankend und haltlos geworden!

Nach all den nächtlichen Golus-Kämpfen, die wir überstanden, konnten wir mit Jakob die Stätten an denen wir gekämpft פניאל nennen und mit Vater Jakob ausrufen:ותנצל נפשי „unversehrt ist unser Wesen geblieben!“ Doch ויזרח לו השמש da die Sonne des Glücks uns tagte, ist aus  פניאל=פני-אל  leider פנואל geworden, (in dem das Zeitwort פנה „sich abwenden“ mehr hervortritt),  והוא צלע על ירכוhaben wir unsere Festigkeit eingebüßt und sind schwankend geworden.

Dieses klägliche Verhalten hat uns nach Zeiten, in denen die Sonne uns lächelte, stets neues Golus gebracht. – Hinkend בין המצרים „zwischen den Grenzen“ bald hier bald dort; oder besser weder hier noch dort, überall nur auf einem Fuße פסחים על שתי הסעיפים schwankend nach beiden entgegengesetzten Seiten, haben wir ein trauriges, verdientes Golus-Geschick erlebt!

Und wohl mit Hinblick auf diese historische Tatsache verkündet der Prophet (Micha 4,6) ביום ההוא נאם ה' אספה הצלעה והנדחה אקבצה „an jenem Tage, spricht Gott, werde ich die Hinkende aufnehmen und die Verstoßene wieder versammeln“ – und so schaut er einstige Sammlung und Heimkehr all derer, die das Golus entweder צלעה zu „Hinkenden“ gemacht oder נדחה, dem Gesetzesheiligtum völlig entfremdet hat.

„Da die Sonne ihm aufging – hinkte er auf seiner Hüfte“ על כן לא יאכלו בני ישראל את גיד הנשה heißt es unmittelbar danach. Aus diesem Genußverbot  spricht daher die göttliche Mahnung, nimmer wankend zu werden, stets standhaft zu bleiben in dem Bewusstsein, daß die Verkümmerung unseres Geisteslichtes noch immer auch unser äußeres Sonneglück zerstört hat.

Wie sinnig spricht sich daher die Mahnung der Weisen aus: את גיד הנשה „in dem Wörtchen את“ sei der Fasttag des neunten Aw, des Gedächtnistages nationalen Unterganges, eingeschlossen – וכל מאן דאכיל בט"ב כאלו אכיל גיד הנשה Wer den Tischo b’Aw entweiht, der hat das גיד הנשה-Verbot mit Füssen getreten!

Die שירות, die wir Gott für Erlösungen gesungen, die Gottes Beistand uns beschieden, waren בלשון הקבה, waren stets aus Leid geboren und haben noch immer nach kurzem Sonneglück erneute Erziehungsleiden zur Folge gehabt. Sie werden ihr Läuterungswerk an uns vollenden. Und strömt einst in der Zukunft das Gott schauende, Gott verherrlichende Lied aus unserer Brust, dann wird es uns auf einer Höhe finden, wo mit der dauernden Gottesnähe auch dauerndes Sonneglück uns beschieden sein wird. –

Unser Lied wird dann שיר חדש ein männlich starkes Lied sein, das eine ganze Menschheit zu segnenden Anerkennung der Gottesherrschaft erheben wird: שירו לה' שיר חדש תהלתו מקצה הארץ

 

Quelle: Rabbiner Dr. Salomon BREUER  Belehrung und Mahnung erster Teil Genesis  J. Kauffmann Verlag Frankfurt am Main 1936 S. 68 - 76

Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH Aus seinem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes Wajéschew

  Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH               (1833 – 1900)   הפטרה פרשת וישב Aus seinem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes W...