vrijdag 28 juli 2023

Rabbiner Samson Raphael HIRSCH Aus seinem Kommentar zur Wochenabschnitt WOESSCHANAN

 


Rabbiner Samson Raphael HIRSCH

 

פרשת ואתחנן

 

Aus seinem Kommentar zur Wochenabschnitt  Woésschanan

 

 Kap 4 V 5 Siehe, ich habe euch Gesetze und Rechtsordnungen gelehrt; wie mich Gott, mein Gott, verpflichtet, damit ihr danach handelt in Mitten des Landes, wohin ihr es in Besitz zu nehmen kommet.

V. 5 ראה, eine fernere Tatsache, die ihr als selbsterfahrene festhalten sollt, ist die: למדתי וגו' לעשות כן וגו' אשר אתם באים וגו'. Ihr seht, ich habe euch nach mir gewordenem göttlichen Befehle Gesetze und Rechtsordnungen gelehrt, damit ihr sie in dem Lande zur Erfüllung bringet, in welches ihr nun einzieht. Damit ist für eure Bestimmung und für die Bedeutung diese Gesetze die euch und sie von allem andern charakteristisch unterscheidende Tatsache festgestellt: ihr seid das einzige Volk auf Erden, das Gesetze hatte, bevor es ein Land besaß, und diese Gesetze sind die einzigen, deren Erfüllung nicht als Mittel zu einem Volksdasein und einer nationalen Boden zu schöpfenden nationalen Selbständigkeit und Wohlfahrt, sondern als Zweck derselben dastehen. Jedes andere Volk wird ein Volk durch sein Land und schafft sich dann Gesetze für sein Land. Ihr aber seid ein Volk durch das Gesetz und erhaltet ein Land für das Gesetz. Alle andere Gesetze sind aus der vom Lande erzeugten Eigentümlichkeit des Volkes und seiner wechselnden  Entwicklungsbedürfnisse hervorgegangen, euer Gesetzgeber – der Mensch, aus dessen Hände ihr euer Gesetz empfangen,– hat euer Land nie gesehen, seinen Boden nie betreten, er war nur der Überbringer des Gesetzes, und sein Grab in der Wüste ist das Gottessiegel an dem Gesetze, das er überbracht, sowie die Wardeiung seiner Ewigkeit und Unwandelbarkeit. Das Gesetz ist das absolute, ihr und das Land seid das Bedingte.  Nicht nach eurem und eures Landes wechselndem Geschicke hat das Gesetz sich zu wandeln, sondern nach eurer wandelnden Gesetztreue wandelt euer und eures Landes wechselnden Gesetztreue wandelt euer und eures Landes Geschick. Mit dem Gesetze im Arme steht ihr als Volk  an der Grenze des Landes, mit dem Gesetze im Arme werdet ihr – einst des Landes zeitweilig verlustig- immer und immer wieder als Volk dastehen, das keine andere Bestimmung hat, als der Erfüllung dieses Gesetzes der ihm wieder den Eintritt in das Land eröffnet, das ihm für die Erfüllung dieses Gesetzes gegeben. Ihr seid das Gesetzesvolk, Palästina ist das Gesetzesland, nicht aber seid ihr das palästinensische Volk und Palästina ist nicht das jüdische Land.  

V. 6 So hütet denn und erfüllet; denn das ist eure Weisheit und eure Einsicht vor den Augen der Nationen, welche alle diese Gesetze hören werden und werden sagen: Es ist doch eine weise und einsichtsvolle Nation dieses grosse Volk!

„…Welche Wissenschaften und Künste das charakteristische Erbteil der anderen Kulturvölker sei mögen, eure, die jüdische Wissenschaft und Kunst, ist die Wissenschaft und Kunst des Aufbaus eines ganzen Menschen- und Volkslebens auf dem Fundamente des Gottesbewußtseins und der Menschenpflicht, ist die Wissenschaft und Kunst der Erkenntnis und der Verwirklichung des Gottesgesetzes, die Wissenschaft und Kunst der Wahrheit und der Harmonie des Lebens.

 לעיני העמים, diese eure Wissenschaft und Kunst des Lebens wird euer Charakteristikum bilden in der Anschauung der Völker.… Andere Völker suchen unablässig das den jedesmaligen, in unaufhörlichem Wechsel begriffenen Zuständen entsprechende Maß der Staatenweisheit. Und weil ihre legislatorischen Schöpfungen nur dem das zeitlich Beschränkte und die Oberfläche der Dinge erfassenden Menschengedanken entspringen, darum sind ihre Normen in ewigem Fluß, und das heute als Heil und Segen bedingende Wahrheit und Recht Verkündete wird vom Morgen als verderbliche Torheit begraben. Nur das jüdische Volk hat ein ewiges Pflichtmaß für alles Sein und Wollen des inneren und äußeren Menschen- und Volkslebens, dem es mit kühner Zuversicht seine Menschen- und Volksexistenz aller Zeiten unterwirft, wissend, daß es eben mit dieser seiner Unterordnung unter Gottes Gesetz sich zum Herrn und Meister seiner Geschicke macht. Wie sein Gesetz, so ist auch seine Geschichte ein von vornherein Gegebenes. Diese, eine ganze Nation in allen ihren Geschlechtern umfassende Hingebung an die Erkenntnis und Erfüllung eines Gesetzes, macht das jüdische Volk zu eine imponierenden geistigen Größe in den Augen der Völker. Sie erhalten Kunde von allen diesen, das jüdische Menschen- und Volksleben gestaltenden Normen und bekennen, dieses große Volk sei doch ein von Weisheit und Einsicht erfüllter nationaler Verein! …“

V. 25 Wenn Du Kinder und Kindeskinder zeugen wirst, und ihr werdet alt geworden sein im Lande, und werdet Verderbnis üben und ein Bild machen, die Darstellung von irgend etwas, und werdet tun, was in den Augen Gottes, deines Gottes, schlecht ist, Ihn zu erzürnen:

כי תוליד . Nicht sogleich nach dem Eintritt in das Land fürchtet Moses die Gefahr der Verirrung, aber er sieht sie kommen, je länger sie im Lande seine werden sieht sie kommen, wenn erst das zweite und dritte Geschlecht im Lande geboren sein wird, ונושנתם בארץ : und sie „alt“ geworden sein werden im Lande. ישן ist nicht wie זקן der Gegensatz von „jung“ sondern der Gegensatz von „neu“, „frisch“, wie ja schon in den Begriffen „Dunkel’ und „Schlaf“ liegt, die ja auch mit ישן bezeichnet werden. (siehe 1 B.M. S. 58 und 319) Wenn die  Nation erst zwei, drei Generationen hinter sich im Lande hat, werden sich ihre Bürger als aus dem Lande entsprungen, mit dem Lande verwachsen begreifen; es wird die Zeit, in der sie noch heimatlos und bodenlos gewesen, ihrem Bewußtsein entrückt werden und sie gänzlich ihres Ursprungs und dessen vergessen, dem sie das Land und jede Daseinsdauer im Lande verdanken.  Nicht umsonst hat mit seinem:  למען תזכר את יום צאתך מארץ מצרים כל ימי חייךdie ägyptische Erlösungstatsache in unser tägliches Bewußtsein zu immer frischem Gedenken verwebt, nicht umsonst seine Feste und seine große Schemita- und Jobelinstitutionen zu ewig wiederkehrenden national gemeinsamen Erkenntnis und Bekenntnistaten dieses Ursprungs und der Gotthörigkeit des Landes gestiftet, nicht umsonst das כבש בן שנה , das „Junge der Herde“ zum ewigen Symbolausdruck seines Volkes in dessen Beziehungen zu ihm bestimmt. Wir haben in unseren individuellen und nationalen Beziehungen zu Gott kein größeren Feind, als dieses die Begeisterungsfrische unseres Gotthörigkeitsbewusstseins in „Blasiertheit“ verkehrende „Altgewordensein im Lande der Verheißung“ wenn das, was als „Verheißung“ das sehnsüchtige Ziel unserer Wünsche und Hoffnungen gewesen, „unser“ geworden und wir „im Besitze verjähren“. –

…Es ist dann nicht mehr Gott, der euch in Seinem Lande und durch Sein Land segnet, je nachdem ihr eurer Thun und Lassen Seinem euch geoffenbarten Willen gemäß regelt, sondern es ist dieses Land selbst mit allem in ihm sichtbar wirkenden sinnlichen Potenzen, in denen ihr Gewähren und Versagen eures Gedeihens erblickt,   ועשיתם פסל תמונת כל: und die ihr euch in sinnlicher Darstellung vergegenwärtigt und endlich dahin gelangt, das ועשיתם הרע בעיני ה' אלהיך להכעיסו , daß ihr in Gott, mit seinem die stete entsagungsfreudige Unterordnung eurer Sinnlichkeit fordernden Gesetze nicht den Spender, sondern den Hinderer eurer Lebensfreuden erblicket, zu dem in prinzipiellen Gegensatz zu treten, euch die Heilesrettung eurer Lebensrichtung dünkt. –

V.26 So bestelle ich heute Himmel und Erde wider euch zu Zeugen, daß verloren, rasch verloren ihr gehen werdet von dem Lande weg, wohin ihr den Jarden überschreitet, es in Besitz zu nehmen; ihr werdet nicht längere Zeit darin bleiben, ihr würdet sonst gänzlich vernichtet werden.

V. 26,…Ihre rasche Entfernung ist  ihre geistige und sittliche Rettung.  Sie müssen Land und staatliche Selbständigkeit verlieren, um nicht in denselben Grad der Entartung zu verfallen, welcher über die kanaanitische Bevölkerung vor ihnen den Stab der Vernichtung gebrochen.  Damit ist denn gesagt, was die Weisen so bedeutungsgroß an den Zahlenwert des verhängnisvollen Wortes „ונושנתםgeknüpft. Der Zahlenwert von  ונושנתםist 852. Wir blieben jedoch nur 850 Jahre im Lande, 440 bis zum Tempelbau (der 480 Jahre nach dem Auszuge aus Egypten, somit 440 Jahre nach dem Einzug in das Land stattfand – Kön. 1,6,1) und 410 Jahre des Tempelbestandes. Das Verhängnis der Vertreibung trat daher zwei Jahre vor der mit  ונושנתםangedeuteten Frist ein צדקה עשה הקב"ה עם ישראל שהקדים שתי שנים לונושנתם (Gittin 88a) und diese rasche Vertreibung war eine wohltätige Rettung der Nation. Staat und Tempel gingen zu Grunde, aber das Volk ging, mit einem ihm noch gebliebenen Rest seines geistigen Erbes im Herzen, der Lösung seiner großen Aufgabe in der Zerstreuung entgegen. “  

V. 27 Es wird Gott euch unter die Nationen hin zerstreuen, und ihr werdet in geringer Anzahl bleiben unter den Völkern, wohin Gott euch führen wird.

והפיץ וגו' Ihr werdet auseinander- und hingestreut unter die Völker. Ihr werdet nicht zusammenbleiben im Exil, unter alle Völkerschaften werden einzelne von euch kommen. Dieser Zerstreuung unter die Völker dürfte ein zweifacher Zweck innewohnen. Sie werden nirgends eine kompakte numerische Größe bilden und vor der politischen Verirrung geschützt bleiben, in welche sie ihr einstiges Staatenleben geraten ließ, und sie werden eine unter die Völker gestreute Gottesaussaat sein, und בעמים , in der Mitte des sozialen Völkerlebens die Idee einer anderen Welt und Lebensanschauung und einer anderen Lebenserfüllung werden und pflegen. Ist doch הפיץ nicht nur eine zerstörende Zerstreuung, sondern auch das Ausstreuen einer Saat והפיץ קצח (Jes. 28,25) und יזרעאל, „Gottessaat“ ward (Hosea 1,2) Jissroéls Galuthname, als dies Verhängnis an im in Erfüllung ging.

 ונשארתם מתי מספר וגו', obgleich gering an Zahl, bleibet ihr doch ein gesondertes  גויunter den גוים , eine besondere Nationalität unter den Nationen.  Erwägt man, daß, so weit bekannt, man noch heute höchstens vier bis fünf Millionen Juden, also höchstens die doppelte Zahl der aus Egypten gezogen zählt, erwägt man, daß diese Zahl bereits zu Davids Zeiten erreicht, ja überschritten war, erwägt man, daß trotz des Abgangs der zehn Stämme zur Zeit des zweiten Tempels (nach Pessachim 64b) sich die Volkszahl auf mehr als zwölf Millionen berechnen ließ, so daß nach Josephus während der Belagerung Jerusalems über eine Million umgekommen sind, und man daher kaum mit der Annahme fehlgeht, daß beim Untergang des jüdischen Staates durch die Römer mindestens noch vier Millionen in der ganzen Welt vorhanden waren: so scheint in der That, trotz der vielbesprochenen Geburtsvermehrung der Juden, ihre Anzahl in allen den langen Jahrhunderten des Exils stationär geblieben zu sein und sich durch eine besondere göttliche Fügung das hier angekündigte ונשארתם מתי מספר בגוים וגו' , ihr bleibet gering an Zahl, unausgesetzt zu verwirklichen. – 

Kap. 5 V.28 Und du, hier bleibe bei mir, damit ich zu dir die ganze Verpflichtung, die Gesetze und die Rechtsordnungen ausspreche, welche du sie lehren sollst, und haben sie sie in dem Lande zu vollbringen, welches ich ihnen zum Besitze gebe.

V.28…ועשו בארץ : sie erhalten nur das Land, um darin dieses Gesetz zur vollen Verwirklichung zu bringen.

Kap. 6 ,V.4 Höre Jissroél: Haschem, unser Gott, ist Haschem der einzig Eine.

V.4 … Der Inhalt von שמע ישראל ist eines von Jissroél an Jissroél bezeugtes Zeugnis, und jeder, der es ausspricht, tritt damit als Gotteszeuge an sich und an die Welt heran. Vielleicht ist es nicht allzu gewagt, zu meinen: עין, das Auge, war עד, war Zeugen dessen, was שמע ישראל aussagt. שמע tradiert: אתה הראת לדעת 

Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH Kommentar Haftoro WOESSCHANAN


Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH

              (1833 1900)

 

ן הפטרה פרשת ואתחנ

   Aus dem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes WOÈSSCHANAN

 

 Jesajas Kap.40, Vers 1 und folgende

 

Kap.40, V.1 und 2. Die Haftora beginnt mit dem Ausblick auf eine lichte Zukunft, in der Jissroéls Leiden und Kämpfe zu Ende, weil es seine Bestimmung erfüllt hat. Jerusalem, der Herzpunkt des jüdischen Nationallebens, der Bestimmung nach: die Stätte, wo die ganze Herrlichkeit der Verwirklichung des Gottesgesetzes in der schon hieniedigen Paradiesseligkeit „sichtbar werden“ sollte, ist hier als geistige Mutter des über die Erde zerstreuten Jissroél gefaßt und zugleich mit ihm identifiziert.  צבאה, Heeresdienst und Kampf, ersteres הלא צבא לאנוש עלי ארץ, letzteres חליפות וצבא עמי, Job 7,1 und 10,17, hier weiblich gebraucht, wie Daniel 8,12: וצבא תנתן התמיד.

כי לקחה מיד ה' וגו'. Das Golus wird hier in seiner Doppelbedeutung betrachtet, für Jissroél und für die Gesamtmenscheit. Für jenes ist es die Erziehung zur Erkenntnis und Verwirklichung des Gotteswortes, für diese die Verbreitung der Lehre von Gott und vom reinen Menschentum. Gerade diese menschheitpriesterliche Bedeutung der Hinaussendung Jissroéls wird im folgenden Verse ausdrücklich hervorgehoben. Das Prophetenwort schaut die Zeit, in der das Jakobsvolk in Wahrheit „Jissroél“ geworden ist und als Menschheitpriestervolk seine Bestimmung erfüllt hat. Dann ist Jerusalem der Herzpunkt geworden, von dem und zu dem nicht nur der Lebensstrom Jissroéls, sondern auch der mit Jissroél innig verbundenen Gesamtmenschheit pulsiert. Das ist das כפלים, das wörtlich: „zwiefach gedoppelte“, die unendlich höhere Stellung, die das Jerusalem der Zukunft einnimmt im Vergleiche zu dem der Vergangenheit. Der einst von den eignen Kindern Verlassenen und Verkannten wallt jetzt der Pulsschlag der Gesamtmenschheit zu.

בכל חטאתיה. Das ב ist der Ausdruck des adversativen Grundes und läßt den Gegensatz zu der tiefen Gesunkenheit der damaligen Gegenwart nur um so schärfer hervortreten. Damit ist zugleich der Übergang zum Folgenden eingeleitet.

V. 3 … In dem Bisherigen verkündete der Prophet das Gotteswort, das einst ertönen wird, wenn die Zeiten sich erfüllet, wenn Jissroél am Ziele. Jissroél steht aber noch vor dem Anfang dieses Weges. Deshalb hat er jetzt den Gottesruf zu verkünden, der Jissroél auf diesen Weg „in die Wüste“ hinaussendet. Der ganze große, mit Blut und Tränen unseres Volkes getränkte, an äußeren und inneren Kämpfe so reiche, durch alle Völker und Zonen, durch alle Zeiten führende weltgeschichtliche Exilesweg Jissroéls zwischen diesen beiden Gottesrufen. Der Trostesruf am Ziele soll Jissroél mit Kraft erfüllen, den Kämpfen und Leiden mit starkem Geiste und tapferem Sinne entgegen zu gehen, denen dieser Ruf: „Hinaus in die Wüste!“ es entgegensandte. Es ist die Zuversicht, es ist die Siegesgewißheit, nicht des eignen Sieges, sondern des Sieges des Wahren und Guten auf Erden. Was aber Jissroél befähigt hat, inmitten der entsetzlichsten Knechtung und Demütigung, unter Höhnung und Lästerung, unter stets sich wiederholender Beraubung und Vergewaltigung, nicht nur geistig und sittlich zu verkommen, sondern innerlich stolz und frei und aufrecht zu bleiben und auf seine Peiniger nicht mit Haß, sondern mit – Mitleid hinzublicken, das war das Bewußtsein seiner Sendung, wie sie in diesem hinausweisenden Gottesrufe ausgesprochen ist: „in der Wüste“ der Völker, auch wo scheinbar für die Keime des Göttlichen, des Reinmenschlichen kein empfänglicher Boden vorhanden, vielmehr jede Aussicht auf Verständnis, auf Aufnahme versagt scheint, „den Weg zu bahnen, der zu Gott führt“. Das Wort, das einst einem sterbenden Sprößling des Jakobhauses in den Mund gelegt ward: „Vergieb ihnen, Vater, sie wissen nicht, was sie tun“ – nicht in einem verhauchenden Augenblicke, auf einem mehr als tausendjährigen Märtyrergange ohne Gleichen hat das jüdische Volk diese erhabene Milde durch sein ausnahmslos allen Menschen, auch seinen Unterdrückern, zugewandte warmherzige Menschenliebe, durch sein ausnahmslos allen Bestrebungen zur Förderung des Menschenheils und der Menschenwohlfahrt zugewandte weltbürgerliche Gesinnung und freundwillige Förderung bis auf den heutigen Tag aufs glänzendste durch die Tat bewiesen. Dieses weite Herz, das auch für die weitesten Gewissen seiner Verfolger und Verlästerer noch einen unerschöpflichen Schatz der Milde und des Mitleids übrig hat, ist eine Erbschaft seiner großen Vergangenheit, die auch das Jissroél der Gegenwart voll und ohne Vorbehalt  angetreten hat. Froh und stolz darf Jissroél dies aussprechen, gehobenen Hauptes vor Gott und Welt, angesichts der schamlosen zeitgenössischen Verdächtigungen, die sich den Schein geben, allen Ernstes nach „Geheimlehren des Judentums“ forschen zu müssen, welche Schädigungen und Benachteiligungen von Nichtjuden angeblich für gestattet,  ja für geboten erklären – – 

ערבה Während מדבר die Wüste, den „keine Saat aufnehmenden Boden, mehr die Unempfänglichkeit, Stumpfheit bezeichnet, scheint ערבה, von ערב, unterscheidungslos mischen, mehr die Wildnis, im Gegensatz zum Kulturboden, zu bedeuten, die in üppigem Wildwuchs den Boden deckende Vegetation, die für anderes keine Stätte läßt. Stumpfheit und die Macht ungebändigter, durcheinander wogender Leidenschaften setzen dem Aufkommen der Saaten des Göttlichen das größte Hindernis entgegen.

דרך ה', „der Gottesweg“, heißt sowohl der Weg, der zu Gott führt, als auch die in Selbstbeherrschung, in Übung von Gerechigkeit und Nächstenliebe sich vollziehende Lebensführung, die Gott den Menschen geboten. Beides fällt zusammen. – פנו: „Bahnen“ setzt Hindernisse voraus, die sich der Erkenntnis des Weges und dem Beharren, dem Fortschreiten auf demselben entgegen setzen. Alles, was dem Menschen den Aufblick zu Gott versperrt, ist ein solches zu beseitigendes Hindernis. Jeder Sieg der Gewalt über das Recht, jede gleisnerische Heiligsprechung siegreichen Unrechts als angeblicher Erfüllung göttlichen Willens erschüttert in den kurzsichtigen Menschen den Glauben an die sittliche Weltordnung. Not macht stumpf, schweigend zu erduldendes Unrecht verbittert, Lustschwelgerei aber vertiert den Menschen, und die ungezügelte Jagd nach den Mitteln zum Genuß und nach Besitz ihm zum Raubtier. – ישרו: gerade machen, das Gerade suchen oder herstellen. Unzählig sind die Abwege. Zwischen den Extremen hin und her, zwischen den entgegengesetzten Wahnvorstellungen schwankten und schwanken kompaßlos die Menschen die Menschen, zwischen Bigotterie und Nihilismus, zwischen Fetischdienst und Materialismus, zwischen fanatisch blindem Glauben und ebenso fanatisch blindem Unglauben, zwischen Entfesselung und Ertötung der Sittlichkeit, zwischen Weltdienst und Weltflucht.

Das ist die Wüste, in die Jissroél als Bannerträger der Wahrheit hinausgesandt wird, das sind die Hindernisse, die es zu überwinde, das der Wirrsal, durch den es den rechten, den geraden Weg finden soll. Die bloße Tatsache, aß ihm diese Aufgabe gestellt ist, verweist es eben damit auf jenen unverlierbaren, unverwüstlichen edlen Kern in der tiefsten Tiefe einer jeden Menschenbrust, zu dem das Wort der Wahrheit nicht auf ewig vergebens Zugang suchen werde.

(Die Haftoroth übersetzt und erläutert, Frankfurt am Main 1896: S. 317-327  Kommentar zu Jesajas Kap. 40 V.1…) 

 

Rabbiner Dr. Salomon BREUER Belehrung und Mahnung (Woèschanan)


Rabbiner Dr. Salomon BREUER

                (1850 – 1926)

ואתחנן

 

Belehrung und Mahnung zur Wochenabschnitt

WOESSCHANAN

(Auszüge)

ואתחנן אל ה' Mausche flehte um Gewährung.  Seine Seele ersehnte den Eintritt ins heilige Land nicht, so sprechen die Weisen, um sich an dessen Früchten zu laben und dessen Reichtum zu genießen, wohl aber, um dort, auf dem Boden des Gottesgesetzes, der Verwirklichung des Gotteswillens in umfassenderem Maße ferner sein Leben zu weihen. Hätte er nicht Anlaß gehabt, pochend auf seine unendlichen Verdienste, dieser Bitte der Charakter einer Rechtsforderung zu verleihen? Nicht so Mausche: ואתחנן אל ה' – wie ein Armer, der Gewährung seiner Bitte fleht, steht er im Gebete vor Gott.

Und die Weisen kommentieren die Tatsache mit dem erwähnten Mischlevers: תחנונים ידבר רש ועשיר יענה עזות. Dieser Satz spricht, wenn wir nicht irren, eine Forderung aus, die unserem sozialen Leben im Geiste der Thora das jüdische Gepräge verleiht. צדקה ist nach der tiefen Erklärung unseres großen Rabbiners זצ"ל jene Verbindung von Pflicht und Liebe, die für die Beziehung zwischen reich und arm nach dem Willen Gottes grundlegend zu sein hat: die Liebe, auf die der Arme aus sich keinen Anspruch hat, in Gottes Namen erwächst sie zu einem Recht, dem zu entsprechen der Reiche sich verpflichtet weiß.  Die Gabe, die sonst den Armen erniedrigen könnte, empfängt er in Gottes Namen als ein ihm zustehendes Recht. Unser Mischlevers dürfte nun für das Verhalten des Armen und des Reichen Bestimmungen enthalten, die ganz dem Geiste dieser jüdischen צדקה entsprechen: תחנונים ידבר רש flehend spreche der Arme, bittend trete er vor den Reichen, poche nicht auf das von Gott verbriefte Recht, das ihm Anspruch auf die Hilfe des Reichen zuerkennt. ועשיר יענה עזות (עזות bezeichnet „Festigkeit“, die auch im Charakter des jüdischen Volkes seine größte Tugend oder Untugend darstellt, je nachdem sie sich zum Guten oder zum Schlechten auswirkt) Pflicht der Reichen aber ist es, ihm mit Festigkeit zu antworten, ihm auf sein bittendes Flehen zu bedeuten, daß er nach Gottes Willen Anspruch auf seine Hilfe habe; denn in dieser den Armen aufrichtenden und stärkenden Einwirkung, die von dem Reichen ausgeht, liegt das Geheimnis des Segens, der unter der Herrschaft der Thora das jüdisch-soziale Leben erfüllt.

Sinnig haben nunmehr die Weisen diese Mischleforderung aus unserer Thorastelle herausgehört. Mausche flehte um Gewährung: die Bitte, die er, auf seine Verdienste pochend, als Rechtsforderung hätte vorbringen können, er spricht sie „als Armer stehend vor der Türe – flehend spreche der Arme, das ist Mausche“ – Gott aber erwidert: רב לך אל תוסף דבר אלי וגו' Du hast genug – Hatte Mausche um Eintritt in das heilige Land gefleht, als ob sein Leben noch nicht reich genug an Pflichterfüllung und sich ferner noch in מצות auszuwirken verpflichtet wäre, wozu Gott ihm verhelfen möge – so bedeutet ihm Gott mit dem Worte: רב לך, הרבה מזה שמור לך, רב טוב הצפון לך „Du hast genug“, d.h. dein bisheriges Leben ist überreich an Errungenschaften, deren Genuß deiner in dem künftigen Leben harrt – „Der Reiche antworte mit Festigkeit, das ist Gott“, denn seinem im Gefühl bescheidener Armut flehenden Diener bedeutete Gott, welchen Reichtum sein Leben vor Gottes Auge besitze.

Von Mausche laßt uns lernen. Und treten wir betend vor Gott, dann laßt uns flehen „gleich dem Armen vor der Türe“ –, nicht pochen auf etwaige Verdienste – wozu selber unser Gebet in seiner Geltung einschränken? Das aber ist der Fall, wenn wir glauben, auf Erhörung unseres Gebetes ein Recht zu haben: sind wir denn sicher, daß unsere etwaige Verdienste als Verdienste vor Gottes Auge gewertet werden? Überlassen wir es Gott. Je ärmer wir vor Gott uns fühlen, desto eher dürfen wir hoffen, daß Gott sich zu uns hernierderneigt, um in seiner unendlichen Gnade uns die „Festigkeit“ einzuhauchen, die wir brauchen, um in jeder Lebenslage des Segens wahrer Gebetserhörung teilhaftig zu sein:

אל תעש תפלתך קבע אלא רחמים ותחנונים לפני המקום.

 

Quelle: Rabbiner Dr. Salomon BREUER  Belehrung und Mahnung fünfter Teil Deuteronomium  J.Kaufmann Verlag Frankfurt am Main 1936 S. 11-16

 

„Gehe zum Frieden“

Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH               (1833 – 1900)    Auszug aus dem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes TAZRIA   V.19...