maandag 24 juli 2023

Rabbiner Dr. Raphael BREUER Vorwort zur Erläuterung der KLAGELIEDER


 Zur würdigen Vorbereitung und Begehung des Neunten Aws

 

Rabbiner Dr. Raphael BREUER

            (1881-1932)

 

KLAGELIEDER: VORWORT

Klagelieder –  verträumte Weisen eines schmerzlichen Notturno – leiten in der Nacht zum neunten Aw Jissroéls nationale Gedächtnisfeier ein, Klagelieder – düstere Klänge eines schier endlosen Lamento – reicht uns der Morgen des neunten Aw. Sonst vermag dem verwöhnten  Kunstsinn des modernen Menschen, dem eine Gedächtnisfeier ohne Trauermusik und schwarzumflorte Kanzel reizlos dünkt, die dumpfe dieses Tages nichts zu bieten. Wäre jedoch den Ordern unsere Liturgie eine im modernen Sinne stilgemäßere Trauerfeier in Wahrheit stilgemäß, d.h. der geschichtlichen Bedeutung des Tages entsprechend erschienen, dann hätte sie fürwahr – so viel Vertrauen darf man ihrem künstlerischen Organisationstalente wohl entgegenbringen – den Zusammenbruch Zions, den Flammentod des Heiligtums auf Moria mit schreienderen Farben, mit allem phantastischen Zubehör orientalischen Rausches und Prunkes in unser Gedächtnis zu schreiben vermocht, oder es jeder künftigen Generation überlassen können, für die Nationaltrauer des neunten Aw sich nach Belieben ein ihrer jeweiligen Geschmacksrichtung zusagendes Programm zu wählen. Wie aber מגלת איכה nicht in gewaltigen Dityhramben eines kunstvoll gefeilten epischen Klaggedichts den tausendjährigen Schmerz der jüdischen Nation beweint, vielmehr so still und so tief, so weh und so warm, wie die ungeheuchelte Liebe um den Heimgang der Eltern, des Kindes, des Gatte, des Bruders und der Schwester weint, von des jüdischen Staates Verfall, der Fäulnis von Priester und Volk,  Jerusalems Sturz und den Bedingungen seiner Auferstehung redet, so will der Gedächtnistag des neunten Aw  durch die gesamte eigentümliche Art, wie er von uns begangen sein möchte, nicht unklare Stimmungen auslösen, sondern das gedankenhelle Bewußtsein jenes nationalen אבלות um Golus Schechinah in uns erzeugen, das freilich nicht mit dem national-jüdischen Hurrapatriotismus unserer Tage nicht sonderlich harmonisiert, jedoch der Trauer um Zijauns Fall, erst ihre jüdische Weihe, den überlieferten Sinn und darum geschichtliche Wahrhaftigkeit, vor allem aber politischen Berechtigung verleiht. Denn so gewiß das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit das einzige Band darstellt, das die zerstreuten Glieder des jüdischen Volkes mit einander verknüpft, so gewiß bedeutete ein von dem Geiste jenes אבלות abgelöstes, sich etwa an der nationalen Sehnsucht der preußischen Polen orientierenden Nationalgefühl im Sinne des überlieferten Judentums Verrat an den Wirtsvölkern, die uns aufgenommen. Wäre das Ziel der jüdischen Nationalsehnsucht ein politisches Gebilde, in welchem die jüdische Religion neben anderen Kulturfaktoren auch eine Rolle spielt, dann befände sich מגלת איכה zu den aus derselben Quelle stammenden Versen (Jirm. 29, 4 ff[1][1]), die uns Anhänglichkeit an die Exilheimat als eine von Gott gebotene Pflicht verkünden, in unversöhnlicher Gegensatz, und die Menschen, die unter dem Regime ein solch zwiespältigen Geistes herangezogen würden, wären weder aufrichtige Europäer, noch ehrliche Palästinenser, sondern doppelzüngige Charaktere, die lebenslang planlos pendelten zwischen Ost und West. Insofern aber die Trauer des neunten Aw nicht dem Verlust des Landes und der Stadt, sondern der Zerstörung des Heiligtums gilt, wird an das Nationalgefühl des jüdischen Volkes jenes messianisch-theocratische Element eingeführt, an welchem auch die chiliastische Sehnsucht der gesamte Kulturmenschheit hängt, und Zijaun dadurch aus einem trennenden Moment das scheidend einträte zwischen uns und dem Vaterlande, dem wir politisch angehören, zum einzig wirklichen und dauernden Einigungspunkt gestaltet, in welchem sich der Genius des Judentums mit dem Geiste aller wahren Zivilisation begegnet. Nur so konnte Jirmejahu im Auftrage Gottes die Forderung erheben, die palästinensische Sehnsucht mit ungeheuchelter Liebe zur Golusheimat zu verbinden: eine soziologische Zumutung, der die jüdische Seele nur mittelst der synthetischen Kraft, die ihr ein thoratreues Leben gewährt, ebenso spielend zu entsprechen vermag, wie sie auch im Einzelleben trotz schmählicher Anfeidung den Nächsten liebt, wie sich selbst, oder in Kunst und Wissenschaft europäische Gedankengänge mit ihrem palästinensischen Gottesbewußtsein vereint.

Ist aber die Stimmung, die das synagogale Programm des Neunten Aw und sein vornehmster Träger, מגילת איכה hervorrufen möchte, im wesentlichen die gleiche, die sich in einem jüdischen Herzen am Sarge teurer Angehörigen erzeugt, bildet jenes festumgrenzte אבלות, das die Seele jüdisch trauernder Hinterbliebenen umdüstert, auch den Tenor unseres Gedächtnistages um Zijauns Fall, dann kann es auch nicht wunder nehmen, wenn Jirmejahus Klagelieder den Zweck rein künstlerischer Erregung nicht verfolgen, überhaupt eine Zuweisung zu einer der landläufigen Dichtungsarten nicht vertragen. So unverkennbar weht auch aus ihnen dem Vorurteilslosen der incommensurabelen sakrosankte Hauch entgegen, der sämtliche Teile der Bibel den Generationen des jüdischen Volkes als כתבי קדש vererbt, daß einem in Wahrheit wissenschaftlicher Kommentar die Riesenaufgabe erwächst, mit seinen Anmerkungen die Heiligkeit dieses Hauches nicht zu trüben. Denn wahrlich, Unvoreingenommenheit ist hier so dringlich, wie bei jeder Wissenschaft, zu fordern. Wie umgekehrt verlangt wird, daß an die nichttheologische Wissenschaft erst dann gegangen werden dar, wenn das Tauchbad einer erkenntnistheoretischen Autonomie, die Überzeugung von der Tragkraft menschlicher Vernunft den Jünger zum Forschen befähigt, jedes unbefugte Hineintragen unwissenschaftlicher Kategorien aber das ganze Bild verdirbt und die Abdankung aller wahren Wissenschaft bedeutet, so muß auch die Bibel gegen jedes unberechtigte Einmengen von außerhalb ihres Bereiches liegenden Theoremen verwahren, wenn anders auch ihr Bild nicht getrübt und die reine Erkenntnis ihrer wahren Bedeutung nicht untergraben werden soll[2][2]. Aber freilich einen Bibelvers von dem erhabenen Kothurn philologischen Dünkels herab bloß auf seinen sprachlichen Eigentümlichkeiten hin betrachtet, dessen Rüstzeug wird mit Ausschluß jeder talmudisch-rabbinischen Erklärungsweise lediglich die Grammatik sein. Je trockener und schmuckloser der Sinn ist, den er dem stürmenden Pathos der zürnenden, den schmerzlichen Wehlaut des klagenden Propheten zu entnehmen glaubt, desto höher wird ihm der Grad seiner Wissenschaftlichkeit erscheinen. Er wird nicht wissen, daß Talmud und Midrasch mindestens einen ebensolch wesentlichen Bestandteil der jüdischen Altertümer bilden, wie die hebräische Sprache selbst, oder irgend ein archäologischer Fund eines nach verschollener Schätzen grabenden Orientalisten, und nicht einsehen, daß man einen prophetischen Höhenflug mit philologischem Schneckengang nicht zu folgen vermag. Und gar erst Jirmejahus Klageliedern! Eine streng disponierte Gedankenfügung sichtlich meidend, überlässt sich der klagende Prophet beim Anblick von Jerusalems Trümmern, zuweilen geradezu mit einen deutlich Stich in’s Impressionistische, seinem Weh – bald das graue Einerlei der Klage durch einen wildaufschreienden Ruf durchbrechend, bald eine heftige Zornrede hinabdämpfend zur stillen Wehmut eines innigen Gebets. Indem er aber andererseits doch seinen Klagen, Schilderungen, Mahnworten und den oft mit packend dramatischer Wucht erfolgenden Ausbrüchen seines Schmerzes und Zornes die metrische Form des alphabetischen Akrostichons und alphabetisierenden Liedes verleiht[3][3] und so die frei schweifende Stimmung seines trauernden Gemüts in die Fesseln einer bestimmten Kunstform voll rythmischen Wohlklangs preßt, läßt er die Doppelseite des jüdischen אבלות jenes nur innerhalb gesetzlich festbestimmter Grenzen freigegebene Trauergefühl[4][4], auch äußerlich in die Erscheinung treten.

Eine gute poetische Übertragung, die sich über die Jahrhunderte hinweg, die uns von Jirmejahus Tagen trennen, in die Seele des klagenden Propheten zu versetzen wüsste, wäre der beste, weil einzig mögliche Kommentar, wenn man eben nicht bei der dichterischen Übersetzung eines hebräischen Textes in einer nichthebräischen Sprache die Gefahr liefe, dem hebräischen Texte nichthebräischen Empfindungen einzumengen, die sich bei genauer Untersuchung als unfreiwillige Niederschläge aus nichtjüdischen Gedankenkreisen entpuppen. Die vorliegende Übersetzung hält sich darum möglichst an den Text, die Erklärung freilich sucht nicht nur den rein gedanklichen Inhalt eines Verses, sondern unter Führung von Talmud und Midrasch, die dem Verfasser dieser Lieder zeitlich und geistig am nächsten stehen, vor allem seinen Empfindungsgehalt wiederzugeben, worauf ja bei Klageliedern, die sich zunächst an das Gefühl wenden, der Schwerpunkt eines Kommentars zu verlegen ist. Meine Anmerkungen haben ihren Zweck erfüllt, wenn das schüchterne Spiel, mit welchem sie den Gesang des Propheten zu begleiten wagen, vom Leser nicht als störend empfunden werden sollte.

Frankfurt a.M., im Ador 5669

Quelle: חמש מגלות Die fünf Megilloth übersetzt und erläutert von Dr. Raphael BREUER, Dritter Teil: Klagelieder / Frankfurt am Main Verlag von A.J. Hofmann 1909




[1] ירמיה כתב ספרו וספר מלכים וקינות Baba Bathra 15a; vgl. die Überschrift der chaldäischen Übersetzung:אמר ירמיהו נבי'א וכהנא רבא)

[[2] Vgl. meine Schrift “Unter seinem Banner. Ein Beitrag zur Würdigung Rabbiner Samson Raphael Hirschs“ S.195

[3] Alphabetische Akrosticha bilden die Werke der ersten vier Kapitel; das fünfte besteht aus so viel Versen, als das hebräische Alphabet Buchstaben hat: es ist ein alphabetisierendes Lied. Das alphabetische Metrum ist in der Bibel nicht selten. Der Grund, der im Comm. zu Ps.25,1 für die Wahl dieser Form angegeben wird: „Die alphabetische Folge der Verse läßt auf die Absicht schließen, diesen Psalm wiederholt und wiederholt aus dem Gedächtnis sich und Andern zu vergegenwärtigen“ – wird wohl auch für alle übrigen Stücke zunächst maßgebend gewesen sein. Allerdings bedürfte noch, was מגלת איכה betrifft, die Reihenfolge פ-ע in Kap. II-IV einer befriedigenden Erklärung.

[4] Vgl. das אבלות-Kapitel in Horeb.

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