Rabbiner Dr.
Salomon BREUER
(1850 - 1926)
בחקתי
Belehrung und Mahnung zur Wochenabschnitt
BECHUKAUSSAI
ואם באלה לא תוסרו לי והלכתם עמי קרי, והלכתי אף אני עמכם
בקרי,
Und wenn ihr durch dieses
euch von mir nicht erziehen lasset und mit mir in Zufall wandeln werdet, so
werde auch ich mit euch in Zufall gehen.
Diese Worte göttlicher תוכחה, die wir vorhin gelesen, werden von den Weisen (ת"כ) also erklärt: אמר הקב"ה אתם עשיתם את
דיני עראי בעולם אף אני אעשה אתעם עראי בעולם Gott spricht: ihr habt mein Gesetz zum Zufälligen
in der Welt gemacht, so werde ich auch euch zum Zufälligen machen.
Tage und Wochen heißt uns das Gottesgesetzt zähen die vom
Peßach, das uns Erlösung und Freiheit gebracht, uns zum Feste der Thora führen.
Diese Sefira-Tage haben sich in unsere Galuth-Geschichte mit traurigen und doch
stolzen Erinnerungen verewigt. Sie erzählen von unsäglichem jüdischen Leid,
aber auch von jüdischer Größe und Stärke, die nicht zögerte, für Gott und sein
Gesetz selbst den Opfertod auf sich zu nehmen. Inmitten seiner erschütternden
Ohnmacht und Wehrlosigkeit, in der dieses Volk der Rohheit und der Gewalt einer
verblendeten Welt erlag, offenbarte sich seine heroische, durch nichts zu
bewältigenden Kraft. Denn nichts gleicht seiner Ohnmacht und Schwäche. Nur zu
wahr hatte sich des Propheten Klage erfüllt:
גלתה יהודה
Den Weisen (מ"ר) gibt die auffallende weibliche Form (statt גלה) zu folgender Bemerkung Veranlassung: (ירמי' נ"ב) ולהלן הוא אומר ויגל יהודה מעל
אדמתי, אלא מכיון שגלו תשש כחן כנקבה Wenn auch an anderer Stelle die männliche Form steht, so soll hier
gesagt werden: sobald das jüdische Volk ins Galuth ging, war seine Kraft
geschwunden. וכי אמות העולם אינם גולין, אלא אוה"ע שאוכלים
מפתם ושותים מיינם אין גלותם גלות, אבל ישראל שאין אוכלים מפתם ואין שותים מיינם
גלותם גלות Kam denn nicht auch über
andere Völker Galuthleid? Aber die anderen Völker essen von ihrem Brot und
trinken von ihrem Wein, deshalb ist ihr Galuth kein Galuth; Jissroél aber ißt nicht von seinem Brot und
trinkt nicht von seinem Wein, sein Galuth ist Galuth. Daher גלתה יהודה: Juda ging ins Galuth. Mit diesen Worten haben
die Weisen das Wesen des jüdischen Geschickes in seiner Eigenart gekennzeichnet.
In dem
Augenblick, da unser Lebenswandel sich nicht im Zeichen des אם בחקתי תלכו vollendet, trifft unser Leben jener
verhängnisvollen Vorwurf, den Gottes תוכחה mit den
Worten bezeichnet: והלכתם עמי קרי Ihr wandelt in Zufall mit mir.
Denn
damit ist, nach der tiefen Erklärung unseres großen Rabbiners זצ"ל nicht gesagt, daß wir dem Gottesgesetz den Gehorsam
verweigern; הלכתם עמי Ihr wandelt mit mir, aber dieser Wandel mit Gott ist nicht
eure erste und einzige Sorge, ihr überlasset ihn vielmehr den Zufall. Ihr
seid nicht prinzipielle Gegner des Gottesgesetzes, aber dieser Gotteswille ist
euch nicht erstes und letztes und
höchstes Ziel, dem allen euren Unternehmungen sich zu unterordnen haben, bei
jedem Schritt, den ihr ins Leben setzet, bei jedem Gedanken, den ihr erwäget,
bei jeder Tat, zu der ihr euch entschließet. Der Gotteswille ist euch, wie die
Weisen erklären, עשיתם את דיני עראי das Zufällige.
Ach, wie
viele solche Zufalls-Juden gibt es doch, die nichts dagegen haben, ja es
sogar freudig begrüßen, wenn sie bei ihren geschäftlichen Unternehmungen auch
dem Schabbos zufällig Genüge leisten können, den aber der Schabbos nicht der
Führer ist, den sie in jedem Augenblick befragen, der zu jedem Unternehmen vor
allem seine Billigung erteilen muss, wenn es überhaupt erwogen werden soll! Wie
viele, die nichts dagegen haben, es sogar freudig begrüßen, wenn sie auf Reisen
oder in der Sommerfrische einwandfrei koscher leben können, wie viele Eltern,
die, wenn es gilt, ihre Kinder zu verheiraten und sie der Frage nach Gesundheit
und den Vermögensverhältnissen gewissenhafte Prüfung zugewandt haben, ganz
erfreut sind, wenn zufällig der oder die Betreffende auch ein guter Jude,
auch eine gute Jüdin ist die aber durch ein solches Verhalten beweisen, daß
ihnen Gottes heiliger Wille nicht אם בחקתי
תלכו der
einzig mögliche Weg ist, der ihnen gegeben ist, daß ihnen vielmehr Besitz und
Genuß die Wege weisen, denen sie mit der ganzen Sehnsucht ihres Herzens
nachstreben, der Gottesweg der Thora aber והלכתם עמי
קרי, das Zufällige ist, das bescheiden zu warten hat, ob ihre
selbstgewählten Wege zufällig auch zu ihm führen.
Wandelt
aber Jissroél mit Gott im Zufall, והלכתי אף
אני עמכם בקרי dann wandelt auch Gott mit ihm in Zufall
und damit sein Geschick besiegelt. Denn Gott muß Jissroél Sein Angesicht
zu wenden, muss Jissroél auf Adlersflügeln tragen, soll es nicht rettungslos
verloren sein. Denn, wie unser Rabbiner זצ"ל so
herrlich ausführt, während andere Völker der Erde die Bedingungen ihres Daseins
in sich tragen, natürlichen, physischen Voraussetzungen die Erhaltung ihres
Daseins verdanken, ist das jüdische Volk nicht das Produkt natürlicher
Voraussetzungen, ihm fehlt jede materielle Unterlage, aus der sonst Volksleben
erblüht; Jissroél ist in seiner weltgeschichtlichen Erscheinung ausschließlich
Gottes Werk. Versagt sich Jissroél der Gottesführung, dann braucht Gott
Jissroél nur seinen Schutz zu entziehen, braucht es nur dem Zufall zu
überlassen, und es geht inmitten einer ihm feindlich entgegenstehenden Welt
rettungslos zu Grunde.
Wir sind
verloren, wenn Gott uns sein besonderes Augenmerk, wenn Gott seine schützende
Rechte uns entzieht; solange aber Gott uns führt, solange Er unser Hirte ist, ה' רועי לא אחסר solange
mangelt uns nichts, und mag auch unser
Lebensweg und durch Todesschatten führen, solange wir das Bewusstsein haben
dürfen, daß Er uns führt, daß Sein Stab und Seine Stütze uns erhalten bleibt,
ist uns inmitten alles Leidvollen, das das Leben anderer in tiefe Nacht hüllen
werde, nur Gutes, nur Liebes beschieden Dieses ergreifende Lebensleid (Ps.
23), ward das stolzen Lebenslied unseres Volkes, als es im tiefsten Gollusleid,
inmitten aller Marter, die Völkerhaß und Rohheit ihm bereitete, die Schwäche
und Ohnmacht von sich abschüttelte und sich zu heroischer Stärke erhob.
Dieses
Wunder aber hatte der Sefira-Geist vollbracht,
den unser Volk im tiefsten Leid wieder gefunden, jener Geist, der uns
vom Peßach, das uns Freiheit und Selbständigkeit gebracht, Wochen und Tage
zählen lässt bis zum Feste unserer Thora. Der Thora hat unser Sehnsucht zu
gelten, sie hat uns das höchste Gut zu sein, von dem alle anderen Güter erst
ihren Wert erhalten; sie figuriert nicht als zufällige Zahl unter anderen
Zahlen scheinbarer Lebenswerte, denn alle anderen Werte erhalten erst durch sie
ihren Wert. Diesen Sefira-Geist hatte unser Volk verloren, als auf heimatlichen
Boden Flur und Acker ihm Segen und Reichtum zutrugen. Da war aber auch sein
Schicksal besiegelt. Aber erliegend unter der furchtbaren Gechickeslast, die
Gottes zufälliges Wandeln mit ihnen für es heraufbeschworen fand unser Volk
die Kraft wieder, den Fluch zu überwinden, der ihm sein Lebensglück zerstört
hatte: es erkannte, was es heißt והלכתם עמי קרי in Zufall mit Gott zu wandeln, und ergriff die
Gottesrechte, die inmitten alles Golusleides sich ihm entgegenstreckte. ושמטתם ובך מנחלתך Hatte es doch, wie der Prophet unserer heutigen
Haftara kündigt, aus traurigem Zusammenbruch jenes Gut sich hinausgerettet, das
ihm stets köstliches Erbgut hätte sein sollen, und das ihm nunmehr zum
Inbegriff alles Lebensreichtums wurde Und da war ihm auch Gott wieder zum
Lebenshirten geworden, und es durfte inmitten alles Jammers und aller Not sein
stolzes Lebenslied anstimmen, das von dem unendlichen Glück singt, das
unverlierbar seinem Leben beschieden ist, und es fand die heroische Kraft, מנשרים קלו ומאריות גברו leichter als Adler, stärker als Löwen allen Drohungen
der Gewalt, allen Reizen der Verlockung zu trotzen und seine Treue gegen Gott
und seine Thora auch mit martervollem Tod zu besiegeln.
Diesem
Sefira-Geist zur Herrschaft im Leben des jüdischen Volkes zu verhelfen, ist die
Aufgabe unseres Golus. Nicht eher schlägt uns
die Stunde der Heimkehr, bis wir nicht gezeigt haben, daß wir die Ursachen
überwunden haben, denen wir den Verlust unseres einstigen Glücks zuzuschreiben
haben. Soll die heimatliche Erde und ihre Segensfülle nicht vergebens
auf uns warten, dann müssen wir in Golus zeigen, ob wir gelernt haben, den
Geist der Sefira zu verwirklichen.
Quelle: Rabbiner Dr. Salomon
BREUER Belehrung und Mahnung dritter
Teil Leviticus J. Kaufmann Verlag Frankfurt am Main 1935 S. 71-78