Rabbiner
Samson Raphael HIRSCH
(1808-1888)
מקץ
Aus seinem
Kommentar zur Wochenabschnitt Mikéz
Kap. 41 V.33 Und nun ersehe sich Pharao einen
einsichtigen und weisen Mann und setze ihn über das Land Mizrajim.
Kap. 41 V.
33 Während sonst in der Regel der חכמה der
בינה vorangeht, steht hier bedeutsam נבון וחכם.
חכם verwandt mit אגם: Aufnahme des Vorhandenen. Wer
die Dinge nach ihrem Wesen und ihre Bestimmung kennt, ist ein חכם. Beides ist etwas Gegebenes, es
hat der Mensch es nicht erst zu schaffen. Der ist aber der wahrste חכם, der die Erkenntnis des Wesens
und der Bestimmung der Dinge von dem entnimmt, der den Dingen ihr Wesen und ihr
Bestimmung gegeben hat. Deshalb ist חכמת התורה die höchste. – ,בין, בינה Einsicht, richtiger: Zwischensicht. – Einsicht, die Fähigkeit in das Wesen
der Dinge an sich einzudringen, hat kein Sterblicher; – aber Zwischensicht,
d.h. das aus dem Verhalten mindestens zweier gegebener Momente Resultierende zu
erkennen, das folgende Urteil, das ist die zu der Erkenntnis des Gegebenen
hinzukommende eigentliche Operation des menschlichen Geistes. Eigentümlich ist
es nun, da gerade diejenige geistige Tätigkeit, die uns mehr passiv erscheint,חכמה , die Rezeptivität, aktiv
ausgedrückt wird, ,חכם , חכמתי im Kal; und umgekehrt, diejenige Geistesoperation, in welcher
wir am meisten selbsttätig erscheinen, die folgernde, produktive Tätigkeit,
immer passiv ausgedrückt wird:נבונתי , נבון . Es dürften hier zwei wichtige Erinnerungen gegeben sein: Zur
Aufnahme dessen, was in Natur und göttlicher Offenbarung über Wesen und
Bestimmung der Dinge gegeben ist, gehört die volle Energie des Geistes, eine
völlige Konzentrierung der Geisteskräfte, damit die ganze und die wahre
Wirklichkeit erfasst werde. Energielos meint man gesehen, gehört, verstanden zu
haben, und hat nur falsch gesehen, halb gehört, oberflächlich verstanden, und
das Erfasste entfällt bald wieder. Umgekehrt hat der gewöhnliche Mensch mehr Freude
an תבונה, an der
folgernden, schließenden Tätigkeit, er sieht sich darin mehr produktiv, mehr
sein Werk, und ist daher sehr zu warnen, nicht zu rasch, zu aktiv zu dieser
Tätigkeit zu schreiten, sich beim Schließen mehr passiv zu erhalten, die beide
Prämissen in sich so lange und so intensiv abzuspiegeln zu lassen, bis sich das
Produkt, der Schluss, von selbst ergibt,
ehe man מבין wird, lange
נבון zu bleiben; sonst ist der
Schluss scharfsinnig, aber die Prämissen sind unwahr. Keiner mehr als der
Scharfsinnige läuft Gefahr, falsche Urteile zu bilden. Daher auch die tiefen
Sätze der Weisen: אם אין בינה אין דעת,
אם אין דעת אין בינה.. Ohne theoretisches Wissen (בינה) bleibt das empirische (דעת) mangelhaft, denn eben die
theoretische Wissenschaft muss vielfach das Empirische kontrollieren und
berechtigen und Schein von Wirklichkeit unterscheiden lehren. Noch mehr aber
bedarf das theoretische Wissen der Empirie. Denn ohne vollständige empirische
Unterlage baut alle Theorie in die Luft. Es ist daher klar, warum gewöhnlich חכמה der תבונה vorangeht. Hier aber waren die
gegebenen Verhältnisse völlig klar. Allein galt es zu ermitteln, was unter den
gegebenen Umständen nun vorsorglich zu tun. Dazu war zuerst der נבון notwendig. Das aber durch בינה Ermittelte musste dann mit חכמה, d.h. mit gerechter Würdigung
aller wirklichen Verhältnisse ausgeführt werden. Für die praktische Ausführung
ist der חכם wichtiger
als der נבון. Der
Scharfsinnige nimmt leicht die Dinge anders als sie sind, und geht irre. Also:
einen einsichtigen und weisen Mann suche sich Pharao und setze ihn über das
Land, וישיתהו. שות ist mehr als הפקיד. In הפקיד erscheint der Eingesetzte mehr
abhängig und untergeordnet, in שות mehr als Selbständiger. Die Zeiten werden so schwer, sich
selbst überlassen wird das Land in den Jahren der Fülle gegebenen Mittel der
Abhülfe unbenutzt lassen. Deshalb ist es notwendig, dem Lande einen „Vormund“,
einen agrarischen Diktator zu geben, damit der Verbrauch in diesen Jahren nicht
unbeschränkt bleibe.
V.43 ließ ihn in den Wagen des
Zweiten nach ihm ausfahren und sie riefen vor ihm her: Ich befehle, daß man
kniee! Und damit setzte er ihn über das ganze Land Mizrajim.
V.43 … Durch den Ring hatte er ich zu seinem „משנה“, seiner „Wiederholung“ seinem
„alter ego“ gemacht, ließ ihn in dem diesen alter ego bestimmten Wagen
ausfahren, und man rief vor ihm: אברך! Wörtlich: ich befehle daß man kniee! Vor der egyptischen
Majestät rief man nicht ברכו! Knieet sondern: אברך: Ich – d.h. unter dem Volke erscheinende Majestät – befehle,
daß ihr knieet. Dem wahren Fürsten ist nur die freiwillige Ehrerbietigung eine
solche. Dem sultanischen ist die freiwillige Ehrerbietigung zu plebejisch
gleichstellend und erniedrigend. Da wird zu huldigenden Ehrenbezeugungen, zum
Gruß befohlen. Diese in Josefs Namen ausgerufene אברך, daß er befehlt, daß man vor ihm
auf die Knie falle, das stellte ihn vollends als den zweiten Pharao dar.
V.51 Josef nannte seinen
Erstgeborenen Menascheh: denn es hat Gott mir mein ganzes Unglück und mein
ganzes väterliches Haus zu Gläubigern gemacht.
V.51 נשני übersetzt
man gewöhnlich: Gott hat mich vergessen lassen all mein Unglück und mein ganzes
väterliches Haus! Wem kehrt sich dabei das Herz nicht um? Josef nennt seinen
Erstgeborenen danach, daß ihn Gott seinen alten Vater und seine ganze väterliche
Familie habe vergessen lassen! Dadurch würde allerdings der Umstand, daß Josef
sich so lange um seinen Vater nicht gekümmert auf die fasslichste Weise gelöst.
Josef wäre einfach ein herzloser Mensch gewesen. Glücklicherweise ist
„vergessen“ nicht die einzige Bedeutung von נשה,נשה heißt auch „Gläubiger sein“ (siehe Kap.
32,33), und נשני kann ebenso
heißen: Gott hat mir mein Unglück und meine Familie zu Gläubigern gemacht. Was
mir bis jetzt als Unglück und Misshandlung erschienen, das hat Gott Werkzeug
meines höchsten Glückes werden lassen, so daß ich meinem Glück und meiner
Familie aufs tiefste verschuldet bin. Die Form נשני statt נשני ist nach beiden Auffassungen
gleich schwierig und würde sich nur durch eine Wurzel נשש erklären lassen, die sonst nicht
weiter vorkommt. – Beiläufig wird der Ausdruck עמל zu der Äußerung missbraucht: der
Jude ist faul, Arbeit bedeutet ihm Unglück. Dem gegenüber denkt sich der Jude
selbst sein Paradies nicht als ein dolce far niente, der jüdische Mensch ist
selbst im Paradiese „zur Arbeit“ da, לעבדה ולשמרה! עמל ist aber nicht eine jede Arbeit,
sondern nur eine mühevolle Arbeit ohne entsprechendes Resultat. Wenn uns
„arbeitsamen“ Deutschen eine solche Arbeit eine Seligkeit wäre, was für eine
Seligkeit müsste dann nicht „Mühseligkeit“ sein! Das עמל des einen erzeugt im
mitfühlenden Nebenmenschen חמל. Es kommt auch als Unglück vor, das man andern bereiten will,
und heißt dann in solcher Beziehung auch: Unrecht, allein in seiner ersten
Bedeutung liegt das nicht.
Kap.43 V.11 Da sprach Jissroél,
ihr Vater, zu ihnen: Wenn dem so ist, was bleibt übrig! Thuet dies, nehmet von
dem, dessen das Land sich rühmt, in euren Geräten und bringet dem Manne ein
Geschenk: ein wenig Balsam, ein wenig Honig, Gewürze und Lotus, Pistacien und
Mandeln.
Kap.43 V.11 … Mit ungemeiner Feinheit hebt Jakob
wiederholt das מעט hervor. Bei
einem so großen Herrn wäre es eine Beleidigung, viel zu schenken, es soll ja
nur Ausdruck einer Huldigung sein.
V.14 Und Gott, der Allgenügende,
gebe euch Erbarmen vor dem Manne, daß er euren anderen Bruder und Binjamin
wieder fortlasse! Und ich – wenn ich denn der Kinder beraubt bin, so bin ich
der Kinder beraubt.
V.14 לפני האיש. Gehet nur
hin, im Vertrauen auf den Allgenügenden, allem, und auch meinen Leiden zur
rechten Zeit das Ziel setzenden Gott; in dem Momente der
Gefahr, in dem Augenblicke, wo ihr euch לפני האיש befinden werdet, wird Gott euch
Erbarmen zuwenden. – רחמים bezeichnet jene Zuneigung Gottes zu seinen Geschöpfen, die die
allgemeinste und verlierbarste, und die ebenso den Grundzug im Verhältnisse der
Geschöpfe zu einander bilden soll. Es ist die Verwandtenliebe, die Liebe zu
einander um des gemeinsamen רחם willen, aus dem sie stammen. Man ist geneigt רחמים mit dem populären רחמנות zu verwechseln und doch ist
Mitleid noch tief unter dem, was das wahre רחמים bedeutet. Was ist seltener, was
adelt den Menschen mehr, Mitleid oder Mitfreude? Sehr wenige Menschen gibt es,
die nicht mit dem Schmerzen des andern Mitleid empfinden. Allein bei weitem
nicht alle, die heute einen Armen bemitleiden, werden sich in gleichem Maße mit
ihm freuen, wenn er über Nacht das große Los gewinnt und morgen in einer
Karosse mit den Seinen an ihn vorüberfährt. רחמים, das Gefühl, das wir ererbt
haben sollen, bedeutet mehr als Mitleid. Es stammt von רחם, mit welchem die tiefste,
aufopferungsreichste Energie eines Wesens für die Entstehung eines anderen
Wesens, die Hingebung alles Blutes und aller Kraft, um ein anderes Wesen
entstehen und sich vollenden zu sehen, bezeichnet wird; רחם ist der Herd der tiefsten
Hingebung. Und auch nachher, wenn das Wesen da ist, entstammt dem רחם nicht bloß Mitleid mit dem
Weinenden, sondern noch innigere Mitfreude mit dem Lächelnden. Ein Lächeln des
Kindes auf dem Schosse entschädigt für jahrelangen Kummer und schlaflose
Nächte. Von diesem רחם ist רחמים gebildet und leidet somit nicht nur mit dem andern, sondern
ruht nicht, bis es ihn glücklich sieht. – …
V.30 Es eilte aber Josef, –
denn seine Gefühle waren zu seinem Bruder hin rege geworden, und er wollte
weinen, – und er ging hinein in das Gemach und weinte dort.
V.30 …Wahrscheinlich heißen davon die heidnische Pfaffen כמרים, im Gegensatz zu כהנים. Der jüdische כהן spekuliert nicht auf Andacht,
Gefühle. Der jüdische Gottesdienst ist nicht darauf berechnet, dunkle Gefühle
rege zu machen. Das jüdische Heiligtum wendet sich zuerst an den Verstand: התפלל, sein Urteil berichtigen, sich
klar machen über alle seine Beziehungen und Obliegenheiten.
Gefühle sind ungemein billig. „Hat andächtig vor Gott geweint“ und steht
auf – und ist um kein Haar besser als er gewesen! Darauf spekuliert der כמר, der heidnische Pfaffe. Der כהן aber soll selbst כן und andere מכין sein, feste Grundlage und
Richtung geben. Im Heidentum wirkt man auf Empfindungen, um durch sie den
Verstand zu fesseln. Empfindungen aber sind ein Uhrwerk ohne Weiser, eine
„Unruhe“ die an sich nicht weiß woher, wohin, die man dann beliebig benutzen kann.
Man macht die Hölle heiß oder fanatisiert das Gemüt; feiert seinen Triumph,
wenn נכמרו מעין, die
inneren Eingeweide der Gläubigen recht in Gährung kommen. – …
V. 34 Er ließ von nun sich aus
Teile ihnen zutragen, da war Binjamins Teil fünfmal größer als ihrer aller
Teile; sie tranken und berauschten sich bei ihm.
V. 34 חמש ידות. In dieser
egyptischen Geschichte finden wir auffallend die Fünfzahl, wo wir immer im
jüdischen Kreise die Siebenzahl erwarten; hier, bei der Vorstellung der Brüder,
bei den Angaben. Es kann das tief in der verschiedenen Weltanschauung liegen.
Fünf ist wohl aus zehn entstanden; zehn ist nach menschlicher Anschauung ein
Ganzes. Nach heidnischer Anschauung ist die Welt uranfänglich ein Ganzes,
Fertiges: Zehn. Nach jüdischer Anschauung ist sie noch nicht fertig, ist erst
sieben, auf dem Wege zu zehn. Gott schafft sie noch immer fort wenn nicht
physisch, so doch sozial. Die die Weltanschauung besingende Harfe, lehren die
Weisen, hatte zuerst nur sieben Saiten, durch David war die Harmonie
achtsaitig, und erst zuמשיח ’s Zeit wird sie mit zehn Saiten vollbesaitet werden. – …
Kap. 44 V.5 Ist‘s nicht gerade
der, aus welchem mein Herr zu trinken pflegt, und er, er hat einen
Ahnungsglauben an ihn! Ihr habt schlecht gehandelt in dem, was ihr getan!
Kap. 44, V.5 והוא נחש ינחש בו er hat einem Ahnungsglauben…
…Josef spricht als egyptischer Herr, als egyptischer Magnat,
nicht als Sohn des Abrahamhauses. Je höher, je größer ein Mensch, ja
wundergleicher sein Glück, um so mehr hängt er an ניחוש, um so abergläubischer wird er –
man denke nur an Napoleon – er ist selbst von seinem Glücke überrascht. Der
gewöhnliche Mensch hat noch manches beim Schicksal zu gute; allein wenn wir
einmal soweit gekommen sind, daß wir uns sagen müssen, unserm ,צדקות unserm sittlichen Verdienste
verdanken wir unser Glück nicht, dann schreiben wir es leicht übernatürlichen
Umstände zu, und eben wegen der entsittlichenden Wirkung des ניחוש ist es verboten. Sobald wir aber
glaube, wir könnten zu unserem Glücke noch etwas anderes tun, als brav sein,
hätten uns noch vor etwas anderem als vor Schlechtigkeit zu fürchten, sofort
sind wir in Gefahr, schlecht zu werden, unterlassen aus ניחוש entweder das Gute, oder tun
etwas Schlechtes im Vertrauen auf ניחוש. Wir wägen dann unsere
Handlungsweise gar nicht mehr auf der Wage des Gottesgesetzes, tun nicht mehr,
was unsere Pflicht ist, weil wir glauben, etwas getan zu haben, wodurch wir
ohnehin zum Ziel gelangen.