Rabbiner Dr. Salomon BREUER
(1850 – 1926)
דברים
Belehrung und Mahnung zur Wochenabschnitt
DEWAURIM
(Auszüge)
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Jährlich steht der Sabbat, an dem אלה הדברים uns verlesen wird, als שבת חזון im Zeichen des heraufziehenden Tischo-beaw. Seit nahezu zwei Jahrtausenden beklagt unser Volk den zweimaligen Untergang seines Heiligtums, ist seine Seele erfüllt von dem schweren Leid, das ihm diese lange Golusszeit gebracht hat, und harrt voll Sehnsucht des Augenblicks, der das Ende seines Golus bringt, ein Ende, das aber nicht enthüllt und nur Gott, dem Lenker unseres Geschickes, bekannt ist. Denn darin unterscheidet sich ja so auffallend unser jetziges Golus von dem ersten babylonischen Golus. Denn während jenes Golus von kurzer Dauer und seine Ende im voraus bestimmt war, ist unser jetziges Golus von langer Dauer und seine Ende uns nicht enthüllt. Als Grund hierfür lehren die Weisen (Joma 9b): ראשונים שנתגלה עונם נתגלה קצם אחרונים שלא נתגלה עונם לא נתגלה קצם „Die Sünde der Ersteren, zur Zeit des ersten Heiligtums, sind enthüllt worden, darum ward auch ihr Golussende enthüllt, die Sünden der Letzteren, zur Zeit des zweiten Heiligtums, sind nicht enthüllt worden, darum blieb auch ihr Golusende verhüllt’. –
Wir glauben diesen vielbesprochenen Ausspruch der Weisen in folgendem Sinne zu verstehen. הוכח תוכיח את עמיתך lautet die große, ernste Forderung des Gotteswortes, di es jedem einzelnen Glied der jüdischen Gesamtheit zur Pflicht macht, den Irrungen seiner Genossen nicht schweigend gegenüberzustehen, sondern Mahnung und wiederholte Vorstellungen das Seinige zu tun, um zur Besinnung aufzurufen und Besserung zu bewirken. Nie und nimmer hätte der Abfall von Gottes Gesetz auch in unserer Zeit solchen traurigen Umfang angenommen, wenn stets und überall sich Männer gefunden hätten, die, erfüllt von heiligen Mut und unbeugsamer Überzeugungstreue, das offene, rückhaltlose Wort der תוכחה zu sprechen gewillt gewesen wären. Man glaubte aber und glaubt immer noch, durch sogenannte politische Klugheit der Gottessache dienen zu können, die, wie man sich selber beredet, um Schlimmeres zu verhüten, schweigen zu dürfen glaubt, wo im Geiste der Thora lautester Protest als gebieterische Pflicht sich erweist.
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Wer ahnt nicht die Größe eines Jesaja, wenn uns aus unserer heutigen Haftora die wuchtigen Worte entgegendröhnen, mit denen er dem „Volk von Amora“, den „Reichen Sedoms’ Tempelbesuch und Opfer, Sabbat und Gebet als wertlos, als Lüge vor die Füße wirft, weil er die Lüge nicht zu ertragen vermag, mit der ein Gott fremdes, entheiligtes Leben sich das Recht verwirkt habe, vor Gottes Angesicht zu treten – „Huren“, „Mörder“ sind sie ihm, die die Ehe mit Gott gebrochen, an deren Händen das Blut sozialer Härte und Selbstsucht klebt! Und mit welch heroischer Selbstverleugnung hat ein Jirmeja das Wort der Zurechtweisung unablässig, unermüdlich gesprochen! Gottesmänner, die die Schmähung der Verblendeten nicht fürchteten, im Kerker ihr mutiges Tun büßten, dafür aber ihrem Volke den Weg der Erlösung bahnten. –
Zur Zeit des ersten Heiligtums, meinen die Weisen mit Recht, wurden die Sünden enthüllt, darum konnte auch das Golussende enthüllt werden.
Die diesem Weisheitswort zu Grunde liegende Wahrheit hat sich aber schon in der Frühzeit der jüdischen Geschichte bewährt. „Wer die Menschen zurechtweiset, um sie Gott zurückzuführen, findet schließlich mehr Gunst als der mit glatter Zunge seinem Volke Schmeichelnde.“ Die Weisen mussten dabei an Mosche und Bileam denken, die sich in ihrem Verhalten zum jüdischen Volke so kraß unterschieden.
Unser Mausche hat seinem Volke keine einzige Lobrede, dafür aber recht, recht viele דברי תוכחה, Worte der Zurechtweisung gewidmet, und אלה הדברים Worte der Zurechtweisungen waren es, mit denen er von seinem Volke Abschied nahm. Dieses Vermächtnis des unsterblichen Führers gereichte aber seinem Volke zu einer Quelle unendlichen Segens: aus seiner Wahrheit haben noch zu allen Zeiten die Schwankenden ihre Festigkeit gewonnen und die Verirrten zu ihrer von Gott gewollten Bestimmung sich zurückgefunden.
Bileam dagegen hat dem jüdischen Volke eine Lobrede gehalten wie keiner vor und keiner nach ihm. Doch diese Lobrede hat, nach dem erwähnten Ausspruch der Weisen, verhängnisvolle Folgen gehabt: שהחליק בנבואותיו וגבה לבם ונפלו בשטים sie hat das jüdische Volk hochmutig gemacht und hat es in Schittim zu Falle gebracht. Dem Gottesvolke zu fluchen, war Bileam von Moabs König berufen worden, doch er durfte seinen Mund nur zum Segen öffnen. Und sein Mund strömte über vom Preis der Stellung Jissroéls in Völkermitte und der durch Gottesnähe ihm verliehenen Größe: er sieht es in seiner gesonderten, einzigartigen Erscheinung, löwenmächtig, er preist die Reinheit und Schönheit seiner Häuser, den Segensreichtum seiner Lehrstätten, er sieht es gehoben durch Gottes Liebe, da Sünde und Schuld an ihm nicht geschaut wird, und den Stern von ihm ausgehend, der einst sieghaft der Menschheit den Weg zum Heile weist. Bolok schlägt verzweifelt die Hände zusammen, – so hat er denn Bileam vergebens berufen. Doch zum Abschied איעצך erteilt Bileam ihm den Rat, den verhängnisvollen, wie allein diesem Volke beizukommen sei: suche es zu verführen, und du hast es besiegt. Und so geschah es…
24000 jüdische Seelen sind Bileams Lobrede zum Opfer gefallen, und wer weiß, welchen Umfang diese Katastrophe noch angenommen hätte, wenn nicht Pinea’s mannhaftes Auftreten dem Verderben Einhalt geboten hätte. …
אלה הדברים אשר דבר משה אל כל ישראל Diese Worte der Zurechtweisung aber hat Mausche an ganz Jissroél gerichtet: alle, alle unterschiedslos hatte er um sich versammelt, und sie hatten doch nicht alle gesündigt, nicht alle an den Verirrungen teilgenommen, die da aufgezählt wurden במדבר בערבה מול סוף וגו'. Nur ein Teil des Volkes war es, der sich nach den Fleischtöpfen Egyptens zurücksehnte, nur ein Teil, der den moabitischen Töchtern nachgegangen, nur die lüsterne Jugend war mit dem Manna unzufrieden, gezählt die an Korachs Aufstand Beteiligten, nur die Hefe des Volkes, die das goldene Kalb sich machten – hätte Mausche sie nicht alle versammelt, wie leicht hätte nicht der eine dem andern die Verantwortung für alle diese Verirrungen zugeschoben, die Alten den Jungen, die Reichen den Armen, die Gebildeten den Ungebildeten und umgekehrt! – Mausche aber richtete seine תוכחה an ganz Jissroél, machte sie alle, alle für alle Verirrungen in gleichen Maße verantwortlich: denn die jüdische תוכחה richtet nicht nur gegen die das Unrecht Übenden, sondern gegen alle, die zu seiner Verhinderung das Ihre hätten leisten können und es unterlassen haben. Es ist der Geist der gegenseitigen Verantwortung des כל ישראל ערבים זל"ז, der den einen für den andern, für sein Tun und Lassen, verantwortlich macht, der sich nicht begnügt, von dem Einzelnen zu fordern, daß er sein Leben in צדקות, in Pflichttreue vor Gott begreife, der ihn vielmehr anruft, zu den מצדיקי הרבים sich zu zählen, der den Leichtsinn neben sich nicht duldet und auch nicht die Unwissenheit, gegen die er vielmehr ankämpft, solange noch andere für das gleiche Leben der jüdischen Pflicht zu gewinnen sind, der er mit jedem Atemzug seines Lebens dient.
Ist aber solcher Geist im jüdischen Volk lebendig, dann kann dieses jüdische Volk nimmer zahlenmäßig erfasst werden. Mutter Jochebed war begnadet, wie die Weisen sich sinnig ausdrücken, ששים רבוא בכרס אחד 600 000 Menschen das Leben geschenkt zu haben, denn sie hat Mausche geboren, der, indem er sein Volk der göttlichen Lebensbestimmung entgegenzuführen bestrebt war, dieses ganze Volk mit seinem bedeutungsschweren Leben aufwog שקול משה כנגד כל ישראל! Unter diesem Gesichtspunkt ist einem Einzelleben eine Bedeutung zuzuschreiben, das zahlenmäßig von Menschen nicht zu erfassen ist: היודע מספר כלכם בדין. Gott allein kennt die Zahl und Wert aller im Gericht, er weiß, wer von denen, die in die Ewigkeit eingegangen, auf Erden gleich hundert, tausend oder gar hunderttausend gezählt hat!
אלה הדברים אשר דבר משה אל כל ישראל. An ganz Jissroél hatte Mausche seine תוכחה gerichtet, sie alle hatte er zur Verantwortung gezogen, und sie hatten sie, im Gefühle der gegenseitigen Verantwortung, widerspruchslos aufgenommen, der eine für den anderen, mit dem er sich verbunden fühlte vor Gott und für die Verwirklichung der von Gott gewollten Lebensbestimmung – הואיל וקבלו עליהן וכו' bemerken die Weisen so sinnig, nachdem sie diese תוכחה im Bewußtsein gegenseitiger Verantwortung hingenommen, dieser Geist also in ihnen lebendig war, צריך אתה לברכן verdienten sie den Segen, dessen sie in dieser Stunde gewürdigt wurden. Und Mausche segnete sie: ה' אלקיכם הרבה אתכם Gott hat euch vermehrt, והנכם היום ככוכבי השמים לרב heute aber seid ihr zahllos gleich den Sternen geworden! In den Tagen Mausches, meinen die Weisen, war der Abraham verheißene Segen Wahrheit geworden. –
Mausche aber fleht zu Gott, daß dieser Geist sich auch in der Folge erhalten und seinem Volke zur unendlichen, zahlenmäßig nimmer zu erfassenden Größe verhelfen möge: ה' אלקי אבותיכם יסף עליכם ככם אלף פעמים ויברך אתכם כאשר דבר לכם
Quelle: Rabbiner Dr. Salomon BREUER Belehrung und Mahnung fünfter Teil Deuteronomium J.Kauffmann Verlag Frankfurt am Main 1936 S. 3-10
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