Rabbiner Dr. Salomon BREUER
(1850 – 1926)
תזריע
Belehrung und Mahnung zur Wochenabschnitt
TAZRIA (Auszug)
…Mit der Mila wurde Abraham Jude. Er vollzog
sie im Zeichen des denkbar größten Kidusch Haschem. Denn Jude sein heißt, den
Mut zum Kidusch Haschem zu besitzen, die Forderungen des jüdischen
Pflichtlebens ונקדשתי בתוך בני ישראל in
lautester Öffentlichkeit zu verwirklichen, auf den Beifall und die Zustimmung
der Menge verzichten, auch den Hohn und die Verlästerung nicht zu scheuen, die dem Juden in öffentlichen Leben gar oft
begegnen. Solche מקדש שם שמים- Juden
haben wir leider nicht viele, dafür gottlob noch recht viele, die freilich בשתיקה, wenn sie vor „fremden Augen“ sich sicher wissen, ihren
jüdischen Pflichten nachkommen. Und doch hat es unser Stammvater uns anders
gelehrt, als er den „Orden“ der Mila aus Gottes Hand für sich und seine
späteste Kinder empfing. Wohl wußte er, daß dieser Akt, der ihn und sein Haus
fortan in den entschiedensten Gegensatz zu den Anschauungen einer großen Welt
setzte, bei ihr nur Spott und Gelächter auslösen mußte. Er aber vollzog die
Mila nicht im Schutz der Nacht – בעצם היום הזה und wenn
die Mila nach Gottes Willen auch am Tage vollzogen werden mußte, was hätte
Abraham gehindert, wenn er die Vornahme dieses Aufsehen erregenden Aktes bei
seinen Hausgenossen auf eine Reihe von Tage verteilt hätte, um so weit wie
möglich peinliches Aufsehen zu vermeiden – er aber vollzog die Mila seines
ganzes Hauses; zu dem 318 Genossen zählten, an einem Tag, scheut den mächtigen
Orloh-Hügel nicht, der vor den Augen einer großen Welt sich türmt und auf den
die „Sonne scheint“ – Gott aber bleibt dieser große, stolze Akt unvergessen,
mit dem unser Stammvater unter den Augen einer lautesten Öffentlichkeit Jude
wurde und von dem noch späte Enkel sich die Mahnung holen mögen, wozu die Mila
d.h. die Zugehörigkeit zum Gottesbund sie verpflichtet.
Aus dem Geiste des בעצם
היום הזה ist es zu verstehen, daß für die Weisen
Abraham bei der Ausführung der Mila nicht nur die Öffentlichkeit nicht scheute,
sie nicht mit dieser Tat überraschte, sondern ihr vorher Mitteilung machte und,
wie sie es so sinnig darstellen, seine Freunde zu einer „Mila-Konferenz“
einlud. Die Ansichten aber, die er da
äußern hörte, sind ungemein bezeichnend; sie begegnen uns bis auf den heutigen
Tag und erklären vielfach unser Verfahren gegenüber den Forderungen der
jüdischen Pflicht.
Oner verweist auf Abrahams Alter
– zu hundert Jahren eine solch tief
eischneidende Maßnahme! Das ist die Sprache der Gewohnheit. Und in der Tat
wohnt in der Gewohnheit eine ungeheure Macht inne, sie beherrscht den Verstand,
und die beste Überzeugung muß sich gar oft ihr beugen. Wen die Schritte, statt
ins Bethamidrasch, täglich ins Kaffeehaus lenken, wird von dieser Gewohnheit auch
am Schabbos nicht lassen, wiewohl den Verstand ihn vor der עברות warnt, die dort auf ihn lauern; wer jahraus, jahrein gewohnt
ist, während אנעים זמירות sein טלית abzulegen und aus dem בית הכנסת zu laufen, wird nur Schwer davon lassen, auch wenn Verstand und
Nachdenklichkeit ihm das Unstatthafte seines Verhaltens nahelegen; und wem es
einmal zur Gewohnheit geworden ist, die laute שמנה עשרה oder קריאת התורה für den
geeigneten Augenblick zu halten, um den Nachbar zu begrüßen und mit ihm in שיחת
חולין, in Geschwätz sich zu ergehen, der wird
von dieser traurigen Unsitte nur schwer lassen, auch wenn sein Verstand das
entschiedene Verbot längst begriffen und natürliches Anstandsgefühl sich gegen
dieses die Heiligkeit unserer Andachtsstätte schändende Verhalten von selber kehrt! Und doch hegen wir die
zuversichtliche Erwartung, daß es der eindringlichen Mahnung des דין doch schließlich gelingen wird, seine Forderung Anerkennung zu
verschaffen. Hat unser sabbatlicher מי שברך an diese unfaßbare Unsitte gedacht, wenn er den Segen herabfleht
auf die מי שמיחדים בתי כנסיות לתפלה ומי שבאים בתוכם להתפלל? Sollte man doch meinen, daß, wenn Synagogen erbaut werden, sie
selbstverständlich für die תפלה bestimmt sind,
und wenn man hineingeht, man sie aufsucht, um dort zu beten. Und doch erfleht
unser מי שברך den Segen bedeutsam
und mit unverkennbaren Nachdruck auf das Haupt derer, die das בית
הכנסת für die תפלה bestimmen und nicht für müßige Unterhaltung, und die
hineingehen להתפלל, um ihre תפלה zu
verrichten und nicht die geweihte Stätte durch שיחת חולין zu entweihen! Wer aber unter uns möchte nicht des Segens
teilhaftig werden, daß Gottes Segen komme über unsere Frauen, über unsere Söhne
und unsere Töchter הוא יברך את כל הקהל הקדוש הזה הם ונשיהם
ובניהם ובנותיהם!
In Oner hat die Macht der
Gewohnheit ihren trefflichen Anwalt gefunden: zu hundert Jahren geht man nicht
neue Wege. Von besonderer Bedeutung schien den Weisen Eschkols Verhalten. Sahen
sie sich doch zu folgendem Ausspruch
veranlaßt: מגיד מראשית אחרים שהכל צפוי היה לפני הקב"ה, אשכל
אוהבו של אברהם היה ונקרא אשכל על אודות האשכול שעתידין ישראל לכרות ממקומו „Gott kündet Künftiges von Anfang an: Eschkol hieß der Freund
Abrahams, er hieß so nach der Traube (אשכול), die einst die Kundschafter im Tale schneiden sollen.“
Irren wir nicht, so wollen sie
uns damit sagen: Das Verhalten der Kundschafter gegenüber dem Gotteswillen hat
schon in Abrahams Tage Vertreter gefunden, nur daß Abraham solchen Einflüssen
gegenüber stark geblieben, keinen Augenblick
im Zweifel war, was die Pflicht von ihm forderte. Denn Eshkol erinnert
an die Feindschaft, die sich Abraham durch Vornahme der Mila zuziehen müsse,
die ihn von seiner Umwelt fortan scheide – und wenn Abraham die Mila vorzunehmen
durchaus gewillt war, so wird Eschkol wohl für eine Vornahme in aller Stille
plädiert haben, um nach Möglichkeit jedes Aufsehen zu vermeiden. Das ist
dieselbe feige, erbärmliche Gesinnung, die die Kundschafter erfüllte, die sich
trotz des Gottesschutzes einer feindlich gesinnten Welt gegenüber ohnmächtig
fühlt und die Kraft nicht kennt, mit der das Bewußtsein, dem Gotteswillen zu
entsprechen, die jüdische Seele zu erfüllen hat – mit dieser Gesinnung haben
sie die Traube in Eschkols Tal gepflückt.
Von allen Freunde stimmte nur
Mamre dem Vorhaben Abrahams zu. Doch nicht das Für und Wider der öffentliche
Meinung hat auf Abrahams Entschluß Einfluß ausgeübt; er war viel mehr von
Anfang an entschlossen, in vollem Bewußtsein der herrschenden Meinungen, mit
denen die große Welt seinen Schritt begleitete, und in lautester Öffentlichkeit
sich und sein Haus dem göttlichen
Lebensbund zu weihen.
Wie aber die Mila von ihren
Trägern Kidusch haschem fordert, weil sie von ihnen in keinem Augenblick des
Lebens verleugnet werden darf, so begleitet sie den Juden bei jedem Schritt
seines Lebens, will jede Gedankenregung und jeden Willensvorsatz unter die Herrschaft des Gotteswillens stellen und
seinem Leben durch innige Vermählung mit Gottes Nähe zur höchsten Vollendung
verhelfen. Das sollte Abraham erfahren, als er, mit dem frischen Bundeszeichen
am Leibe nach Wanderern ausspähend, an dessen er Gastfreundschaft ausüben
könne, der Schechinanähe Gottes teilhaftig wurde. Er will sich vor der
Schechina erheben und wird veranlaßt, sich in seiner Liebesbetätigung an
Menschen nicht zu stören – denn Gott weilt dort, wo Menschen Seinen Willen
betätigen. Und wenn Jissroél in seinen Bet- und Lehrhäusern sitzend weilt,
weilt Gottes Schechina über ihnen, denn keine größere Huldigung kennt Gott, als
wenn das Leben des Menschen zu einer Offenbarung des Gotteswillens sich gestaltet. Das aber ist der Fall, wenn
göttliches Milazeichen uns mahnend dazu bringt, „vor Gott zu wandeln und nach
Vollendung zu ringen“. Vollendung aber winkt dem Leben, wenn es in keinem
Augenblick die Mila verleugnet.
וביום
השמיני ימול בשר ערלתו Die Mila weiht ihre
Träger dem Schabbos, denn Gottes Herrschaftswille soll in ihm einen rüstigen,
treuen Vollstrecker finden. Dieser Gotteswille umfaßt aber nicht nur das
Einzelleben, er will auch das Gemeinschaftsleben im Zeichen des Rechts und der
Liebe aufbauen. Vor seiner Nähr sollen Haß, Bösrede und Verleumdung, sollen die
unheimlichen Mächte weichen, die das soziale Leben vergiften und ihm die
Segnungen des Friedens rauben.
Wer die Mila in Wahrheit trägt,
den braucht der Gottesfinger nicht strafend mit Negaim zu berühren, mit denen
Gott den zu treffen weiß, der die sozialen Forderungen des jüdischen Lebens
verleugnet.
Er muß die Mila als stolzer Enkel
unseres Stammvaters tragen, der die Mila in lautester Öffentlichkeit vollzogen
und im Anblick einer großen Welt bei jedem Schritt seines von Gottesrecht und
Gottesliebe erfüllten Lebens verwirklicht hat.
Mit Recht ruft daher der Weise
aus: Wie groß ist doch die Mila, sie vermag Negaim zu verdrängen!
Quelle: Rabbiner Dr. Salomon
BREUER Belehrung und Mahnung dritter Teil Leviticus J.Kaufmann Verlag
Frankfurt am Main 1935 S. 20-26