Rabbiner Dr. Mendel HIRSCH
(1833 – 1900)
הפטרת פרשת פרה
Aus seinem Kommentar zur Haftoro des Wochenabschnittes Poroh
Ezechiel, Kap. 36, Vers 16 und
folgende
Vorwurf und Verheißung in diesem herrlichen Prophetenworte enthalten die lauteste Verkündigung der sittlichen Freiheit. Sie lehren, daß eine Erhebung möglich ist auch aus der tiefsten Gesunkenheit zur lauteren Höhe reinen Menschentums und sie verkünden als Ziel der ganzen göttlichen Leidenserziehung Jissroéls, daß diese Möglichkeit zur Wirklichkeit werde. Jedoch nicht in partikularistischen Umschränkung, etwa nur zu Jissroéls Heile, sondern als mächtiges weltgeschichtliches Lehrmittel zur Erleuchtung und Erhebung der Gesamtmenschheit. Denn dies und nichts anderes ist die Bedeutung der kaum irgendwo sonst so scharf hervorgehobenen Rücksicht auf den „Namen Gottes“, das ist ja dasjenige, was den Menschen von Gott und von ihrem Verhältnisse zu Ihm zur Erkenntnis und nur Anerkennung kommt. Nirgends ist scharfer als hier ausgesprochen, wie das unter die Völker zerstreute Menschheitspriestervolk durch sein wenig priesterliches Leben zum Verräter wurde an seinem Priesterberufe. Das Banner, das es hoch halten und zu Ehren bringen sollte, trat es in dem Staub; die Lehre vom Menschenideale, für die es Geist und Herz der Menschen gewinnen sollte, verdunkelten nur zu oft die eigene Söhne durch ihre wenig geläuterte Persönlichkeit den Augen und der Erkenntnis des Menschen. Denn zu allen Zeiten verwechselten die Menschen die konkrete Judenheit mit dem Judentum. Nicht als ob die Juden irgend einer Zeit und irgend eines Landes jemals unter dem geistig-sittlichen Niveau ihrer nichtjüdischen Zeit- und Landesgenossen gestanden hätten. Allein die ihnen unverlierbar, auch in den Augen der Völker unverlöschbar aufgeprägte menschheitspriesterliche Bestimmung, die freilich in den Augen der Völker zur „Anmaßung“ wird, bewirkte es, daß an die Schwächen und Gebrechen der Juden ein strengerer Maßstab angelegt wird. Was sie bei sich als natürliche Schwäche mild beurteilen und entschuldigen, das haben unsere nichtjüdischen Brüder zu allen Zeiten bei den Juden zum Verbrechen gestempelt. Vor Vorzügen und edlen hervorragenden Eigenschaften der Juden hat man zu allen Zeiten die Augen beharrlich geschlossen, sittliche Mängel des einzelnen Juden jedoch stets hervorgehoben und generalisiert. Ja, dieselben Persönlichkeiten, deren moralische Defekte sich als gänzliche Verleugnung des Judentums darstellen und gerade als Produkte des Judentums, als Tat gewordenes Judentum bezeichnet, wie dies schon vor Jahrhunderten das auch unsere Gegenwart beleuchtende Prophetenwort ausgesprochen hat: „Man spricht von ihnen: Diese sind das Gottesvolk’ und aus Seinem Lande sind sie hervorgegangen!“ (V.20). Absichtlich und unabsichtlich identifizierten und identifizieren sie Judentum und Judenheit. Daraus erwächst allerdings für den Juden die Verantwortlichkeit für jedes Verschulden zu ernsterer und verhängnisvollster Schwere. Andererseits aber ergibt sich daraus „das göttliche Erbarmen mit Seinem heiligen, durch Jissroél zu Unehren kommenden Namen“ (V.21) und die weltgeschichtliche, d.h. aus dem in der Thora uns enthüllten Geschichtsplan Gottes entspringenden- Notwendigkeit, Jissroél nicht in seiner Unreinheit zu belassen, sondern es durch die Ereignisse zu erziehen, bis Er ihm an die Stelle des „steinernen“ Herzens ein für alles Edle und Gute empfängliches, „fleischernes“ Herz anerschaffen und es zur reinen Menschheitshöhe emporgeläutert habe. Auf dieses höchstes Menschheitsideal wird durch das in den Schlussversen 36 und 37 wiederholte „Adam“ ausdrücklich hingewiesen.
Kap.36, 37: בן אדם: Sicher nicht ohne tiefen Grund und nicht ohne innigen Zusammenhang mit dem eben Bemerkten wird Ezechiel durchweg „Sohn Adams“ genannt. Derjenige Prophet, der, als einer der letzten, nach der bereits erfolgten nationalen Katastrophe den Blick nur auf die Zukunft zu lenken, deren Ziel u enthüllen und den zu diesem Ziele durch Sündennacht und Menschheitswüste führenden Weg zu erhellen hatte, wird dadurch in unmittelbare Beziehung zu dem ersten Anfang aller Menschheitsgeschichte gebracht.
Der ganzen Geschichte der Menschheit, so wird uns damit gelehrt, liegt ein großer Gottesgedanke zu Grunde. Sie ist nichts als die Ausladung des „Adam“-Begriffes. Die Erziehung zu dessen Verwirklichung bezweckt nichts anderes als die Erreichung derjenigen Bestimmung, die dem als „Adam“, als „Stellvertreter Gottes“ erschaffenen Menschen im Kreise der Schöpfung angewiesen ward. (Siehe zu 1 B.M. 1,26) Im Dienste diese Zieles steht die Berufung Abrahams, die Schöpfung Jissroéls, dafür hat Gott sich auf dem Sinai offenbart, dafür Jissroél sein Gesetz gegeben; für die Erreichung dieses Zieles hat der erste wie der letzte Prophet im Namen Gottes gewirkt, im Dienste der Erreichung dieses Zieles haben die hohen und hehren Männer aller Zeiten in Jissroél gelebt und gelehrt, gekämpft und geduldet, im Dienste der Erreichung dieses Menschheitszieles steht und wirkt der unscheinbarste jüdische Mensch, der seines Gottes Gesetz in seinem Leben und in seinem bescheidensten Kreise zu verwirklichen strebt, und der Ausblick auf die Erreichung diese Zieles bildet den Schlussgedanken aller unserer Gebete.
יושבים על אדמתם: verkürzter Partizipialsatz, der Konstruktion und Apposition zu בית ישראל, wird sodann grammatisch durch den Plural Subjekt des Satzes. Zuerst als בית ישראל, nach Abstammung und Bestimmung als Einheit angeschaut, wird Jissroél sodann in der Mannigfaltigkeit seiner Glieder als konkrete Vielheit erblickt, um sodann:
V.20 ויבוא אל הגוים, durch den Singular höchst charakteristisch wieder als Einheit bezeichnet zu werden. Denn dieser Vers spricht von der durch die sittliche Mangelhaftigkeit der einzelnen Sprossen des Israelhauses bewirkten Entweihung des göttlichen Namens. Da verkündet dieser Singular nun, zumal in der Verbindung mit dem Plural גוים, die solidarische Haftbarkeit, mit welcher Gesamt-Jissroél im Galuth für jeden Makel eines jeden seiner einzelnen Glieder werde verantwortlich gemacht werden. Und das hat sich erfüllt bis auf den heutigen Tag. In den Augen der Völker bilden wir eine Einheit. Wie verschieden auch die Heimat, gleichviel ob in Deutschland, England, Frankreich oder Amerika, - wie verschieden auch die äußere Stellung, gleichviel ob es sich um einen armen, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent gehetzten jüdische Paria, oder um eine Finanzgröße handelt, möge dieselben auch noch dazu bis zur letzten Faser schon seit Generationen dem Judentum entfremdet sein – das ändert alles nichts: für das Vergehen, für die Schwäche auch des entferntesten und entfremdesten vereinzelten Gliedes wir die jüdische Gesamtheit und, was noch schmerzlicher, wird das Judentum verantwortlich gemacht. So ungerecht, so perfid diese Generalisierung, diese Übertragung auch ist, wir müssen sie tragen. Das gehört mit zu dem Ernste unserer Aufgabe, zu dem Ernste unseres Geschickes. Um so sorgsamer hat jeder Einzelne über sich zu wachen. Es ist das die ernste Mahnung, die der Prophet Jesajas mit den Worten aussprach הברו נושאי כלי ה'; „Haltet euch rein, ihr seid Träger göttlichen Werkzeugs!“ (S.o. S.348).
…
(Die Haftoroth übersetzt und erläutert, Frankfurt am Main 1896: S. 439- 445 Kommentar zu Ezechiel Kap 36 V.16…)
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