Rabbiner Dr. Raphael BREUER
(1881-1932)
WAS HAT RABBINER HIRSCH UNSERER ZEIT ZU SAGEN? (1.Ablieferung)
Rede gehalten anlässlich der am Vorabend des 27.Teweth 5691 von der Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft in Frankfurt a. M. veranstalteten Jahreszeitgedenkfeier.
Aus den תשובת הגאונים berichtet Raschi in Jebamoth 122a, daß schon in ganz alten Zeiten der Todestag eines großen Mannes der Ehrung seines Andenkens gewidmet war:
יום שמת בו אדם גדול קובעים אותו לכבודו
So haben auch wir uns heute am Vorabend des 27. Tébeth hier versammelt, um uns die Frage vorzulegen, was der אדם גדול, der einst an diesem Tage seinen Augen schloß, unserer Zeit zu sagen hat. Je mehr das Bedürfnis und die Notwendigkeit dieser Frage nur aus dem Geiste jenes stillen Zweifels zu erklären ist, der die Herzen unserer nach Klarheit drängenden Jugend erfüllt, umsomehr glauben wir es der כבוד unseres großen Rabbiners זצ"ל schuldig zu sein, auf diese Frage eine klare Antwort zu geben.
Diese Frage ist schon einmal, vor zwanzig Jahre, aufgeworfen und beantwortet worden. Unter dem Titel „Samson Raphael HIRSCH als Erzieher“ hat damals Joseph Wohlgemuth in Berlin einen der besten seiner Aufsätze geschrieben. In begeisterten Worten schilderte Wohlgemuth in diesem Aufsatz den gewaltigen Eindruck, der vor allem Hirschs „Jeschurun“ auf ihn gemacht, als er in seinem 21. Lebensjahre über die Jahrgänge dieser Zeitschrift geriet. Von der Tischribetrachtung „Des Juden Katechismus ist sein Kalender“ sagte er da: „Ich kenne kein Produkt der nachbiblischen jüdischen Literatur, das in einer einzigen Betrachtung eine solche Fülle von Gedanken, einen so unerschöpflichen Stimmungsgehalt gegeben wie diese Tischribetrachtung“. Und von der Kislewbetrachtung „Hellenismus und Judentum“: „Unzählige Male habe ich diese Abhandlung gelesen, immer neue Anregungen für pragmatische Geschichtsbetrachtungen aus ihr empfangen.“ Und von Rabbiner Hirschs Schriften in ihrer Gesamtheit: „Die Schriften aber haben Menschen gebildet in ihrer Zeit und werden, das ist ohne Prophetengabe schon jetzt vorauszusehen, auch künftigen Geschlechtern die Wege weisen.“
Es hat seinen tiefen Grund, daß unter allen Schriften Rabbiner Hirschs der Jeschurun es war, der auf die Zeitgenossen den größten Eindruck machte. Denn hier kam gerade das überwältigend zum Ausdruck, worin die große Kraft unseres großen Rabbiners lag: Der gewaltige Trieb zum Reden und Überreden, die flammende Sehnsucht, jüdische Menschen für Thora und Mizwoth im Sturm zu erobern, der unerschütterliche Glaube an die Siegeskraft des Wortes, vor allem aber die tiefe Überzeugung, daß wir es bei unserer Thora weder mit einem Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis noch mit ästhetischen oder mystischen Offenbarung zu tun haben, sondern mit einer göttlichen Botschaft an die Menschen, die darauf wartet und darauf angewiesen ist, mit Hilfe des vom Gottesgeist beseelten Menschenwortes den Himmel auf die Erde zu pflanzen. Dieses rauschende und berauschende Menschenwort ist niemals sachlich im Sinne unserer neuen Sachlichkeit, sondern subjektiv und persönlich im höchsten und edelsten Sinne. הוצא דבר מתוך פיך „Laß hervortreten das Wort aus deinem Munde“ bemerkt der Midrasch zu dem Verse כי קרוב אליך הדבר מאד בפיך ובלבבך לעשותו Es soll aus deinem Munde sein. Und noch viel eindringlicher dürfte diese Forderung, das Gotteswort mit dem höchst persönlichen Leben einer jeden neuen Gegenwart zu erfüllen, von der Gemoro in Chulin 89a erhoben werden:
מה אומנותו של אדם בעולם הזה ישים עצמו כאלם יכול אף לדברי תורה
תלמוד לומר צדק תדברון
Beim irdischen Schaffen des Menschen ist es im allgemeinen so, daß es nur dann als vollkommen gilt, wenn der Schaffende hinter seinem Werk verschwindet, wenn der sachliche Zweck sein Persönliches „verstummen“ läßt. Nun könnte man meinen, daß es auch bei der Thora so wäre. Darum heißt es: Das göttliche Rechtssystem der Thora hat zu seinen Sachwaltern, zu seinen Boten und Verkündigern euch erkoren.
Ist aber das göttliche Rechtssystem der Thora berufen, in einer jeden Gegenwart das Eigene und Persönliche der neuen Generation aufzuwühlen und in immer neuen Formen und Klängen die ewige Wiederkunft seiner selbst zu erleben, dann ist die Frage berechtigt, wie es sich heute mit den Worte und der Botschaft Hirschs verhält. Erst vier Jahrzehnte sind seit seinem Tode vergangen. Kann und darf man heute beim Anblick seines Werkes von Zeitbedingtheit und Zeitgebundenheit sprechen? Gehört sein Wort und seine Botschaft nur der Vergangenheit an, oder hat Rabbiner Hirsch auch unserer Zeit noch etwas zu sagen?
I.
Machen wir uns zunächst einmal klar, was Rabbiner Hirsch seiner Zeit zu sagen hatte. Seine Botschaft, zu der er auserkoren war, bestand in der Hauptsache darin, seinen Schicksalsgenossen den Glauben an die Thora, der ihnen völlig abhanden gekommen war, wiederzugeben. Seine Schicksalsgenossen: das waren die deutschen Juden des vorigen Jahrhunderts, die entweder in ungezählten Scharen vom alten Väterglauben abfielen oder nach einer neuen Form des Judenseins ausspäthen, die ihnen den Abfall vom Alten ersparen und den Anschluß an das Neue ermöglichen sollte. Diesen Schwankenden, Zweifelnden, Sehnsüchtigen, die vom Geist der neuen Zeit im innersten ergriffen und erschüttert waren, die wohl auf der einen Seite den Abfall vom Alten als erbärmlichen Verrat durchschauten, aber doch auf der anderen Seite nicht recht wußten, wie sie den Anschluß an das neue gewinnen sollten, ohne auf den Weg des Verrates abzugleiten: das waren die Menschen für die Rabbiner Hirsch ein von Gott gesandter Führer und Retter, ein zweiter מורה נבוכים wurde.
Die Art und Weise, wie er zu diesen Menschen sprach, mußte ihre Seelen zum Klingen bringen, sofern sie nur guten Willens und von ehrlicher Aufnahmebereitschaft waren. Wie er die Thora lehrte und lernte; wie er einen Bibelvers, ein Wort des Talmud und des Midrasch ansah, aussprach und darlegte; wie er in den klassischen Quellen der jüdischen Lehre, des jüdischen Denkens und Fühlens in unverfälschter Reinheit und Ursprünglichkeit, aber doch mit solcher originaler Kraft wiederzugeben verstand, daß sie die Menschen seiner Zeit wie neu geschaffen anmuteten: das hat ihm in der schöpferischen Genialität seiner Einmaligkeit keiner seiner Zeitgenossen nachgemacht. Uns mag heute manches selbstverständlich vorkommen, was erst unter dem Einfluß seiner Wirksamkeit zum geistigen Besitztum weiter Kreise wurde. Daß wir es bei der Thora und Mizwaus mit weltbewegenden, weltgestaltenden, weltumformenden geistigen Mächten zu tun haben; daß diese Thora der Inbegriff unerhörter philosophischer, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Aufschlüsse und Erkenntnisse ist; daß diesen Mizwaus eine erziehende Gewalt innewohnt, die von keiner modernen Fortschritt der pädagogischen Theorie und Praxis überflügelt werden kann; daß diesem jüdischen Volke mit seinem Zion der Vergangenheit und seinem Zion der Zukunft eine kosmische Aufgabe gestellt ist, deren Lösung das Heil der Menschheit bedingt; die welthistorische Weite dieser Schau, sie mag in den klassischen Zeiten der jüdischen Geschichte Gemeingut aller Wissenden und Verstehenden gewesen sein, sie mußte aber vor hundert Jahren vom Verfasser der Neunzehn Briefe und des Chaurew wie Neuland entdeckt werden, und sie mußte gegenüber dem Hohngelächter eines seichten Aufklärertums und einer beschränkten Wissenschaftlichkeit mit starker Hand verteidigt und befestigt werden.
Im Andenken der Nachwelt lebt Rabbiner Hirsch vielfach als Schöpfer einer neuen, modernen Orthodoxie fort. Er habe aus dem Thora- und Derech-Erez-Ausspruch unserer Weisen das Recht einer Verbindung von jüdischer und nichtjüdischer Kultur hergeleitet. Nichts ist falscher als das. Niemand war von der obersten und heiligsten Pflicht des jüdischen Volkes, die Autonomie und Souveränität seiner Thorakultur aufrecht zu erhalten, tiefer durchdrungen als er. Wie hätte er jemals auf den Gedanken kommen können, die Eigengesetzlichkeit der Thorakultur zu erschüttern, er, der den Gedanken niemals fassen konnte, wie jüdische Menschen, denen an der Erhaltung der Thora als der Seele der jüdischen Gemeinschaft etwas gelegen ist, die Souveränität dieser Thora in jüdischen Gemeinden, Verbänden, Weltorganisationen in die Forderung einer orthodoxen Partei verwandeln konnten, und der das Erlebnis dieser Verwandlung als die schmerzlichste Enttäuschung seines Lebens empfand! Thora und Derech Erez: das hieß für ihn nichts anderes, als Hineinstellen der Thora in den großen Zusammenhang der Welt. Wie sollen denn Thora und Mizwaus zu weltbewegenden, weltgestaltenden, weltumformenden geistigen Mächte werden, wie soll denn das jüdische Volk seine geschichtliche Mission erfüllen können, vor den Augen aller Welt Zeugnis abzulegen für die Ehre Gottes und seiner Lehre, wenn Judesein mit Weltfremdheit und Weltabgeschiedenheit gleichbedeutend wäre! Wie schon der erste Jude als „Vater des Völkergewoges“ die Weltbühne betrat, um der angemaßten politischen Souveränität der Nationen die göttliche Souveränität seines jüdischen Messianismus entgegenzuhalten, wie jedes Wort, das Mosche Rabbenu und all die Propheten, die nach ihm kamen, zu ihrem Volke sprachen, Himmel und Erde zur Zeugenschaft berief und eine Botschaft messianischer Weltkultur an die ganze Menschheit war, so und nicht anders hat auch unser großen Rabbiner ז"ל seine Thora und Derech-Erez-Botschaft verstanden.
Quelle: Nachalath Z’wi Eine Monatschrift für Judentum in Lehre und Tat, herausgegeben vom Vorstand der Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft. I. Jahrgang 5691/1930-31, S. 84-101
Über Rabbiner Joseph WOHLGEMUTH (1867-1942) Herausgeber einer schlechten rabbinischen Zeitschrift mit den Namen „Jeschurun“ (Berlin 1914-1932)
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