zaterdag 15 januari 2022

Rabbiner Dr. Raphael BREUER WAS HAT RABBINER HIRSCH UNSERER ZEIT ZU SAGEN? (3.Ablieferung)


 
Rabbiner Dr. Raphael BREUER

            (1881-1932)


WAS HAT RABBINER HIRSCH UNSERER ZEIT ZU SAGEN? (3.Ablieferung)

 

Rede gehalten anläßlich der am Vorabend des 27.Teweth 5691 von der Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft in Frankfurt a. M. veranstalteten Jahreszeitgedenkfeier.

 

IV.

 

Wer die Schriften Rabbiner Hirschs wirklich kennt, wer sie nicht bloß oberflächlich gelesen, sondern gründlich studiert hat, der findet auf Schritt und Tritt bestätigt, was ich vorhin als Grundgefühl seines Innenlebens und als die alles beherrschende Richtlinie seiner Botschaft bezeichnet habe: die Ehrfurcht vor dem Walten Gottes in der Geschichte und den Glauben an den endlichen Sieg des Rechtes auf Erden. Im Rechte stieg ihm die Gottheit auf die Erde nieder, das im Thoragesetz geoffenbarte Recht war ihm der oberste Souverän, dem sich alles auf Erden zu unterordnen hat: die Politik und Wirtschaft aller Völker und Staaten und ihnen als beispielgebend voranschreitend – Jissroél, das Gottesvolk. Und als vor hundert Jahre das deutsche Judentum die erste Schritte unternahm, um das Recht der Thora aus die Verfassung des jüdischen Volkes zu streichen, um an die Stelle des Thorawillens den Volkswillen zu setzen, da hat sich, als Rabbiner Hirsch diese Umkehrung aller jüdischen Werte erlebte, dagegen sein Rechtsgefühl aufgelehnt. Er sah, daß Unrecht geschah. Er sah, wie man auf dem Wege der Gewalt dem überlieferten Judentum nach dem Leben trachtete. Das dürfte nicht geschehen, selbst wenn man von der Reformbedürftigkeit des Judentums überzeugt war. Daß die Führer der Reform das alte Judentum, wie es in den Neunzehn Briefe heißt, nur eines Axtstreiches für Wert befanden; daß sie es auf einer Kraftprobe gar nicht ankommen ließen und damit nur das Gefühl der eigenen Schwäche verrieten: das war die große Ungerechtigkeit, die vor 100 Jahren Rabbiner Hirsch als Anwalt des Thorarechtes auf den Plan gerufen hat. Und als es 40 Jahre später gelang, diesem Thorarechte in der Frankfurter Adas Jeschurun eine staatlich anerkannte Heimstätte zu erobern und als nun die Reform dazu überging, im wohlverstandenen eigenen Interesse die gewaltige Willkür von dazumal in entgegenkommende Wohlwollen zu verwandeln, da bedurfte es schon eines Rechtgefühls, wie es in der Seele unseres großen Rabbiners זצ"ל lebte, um es einzusehen, daß Wohlwollen nur eine besondere Form der Willkür ist. Was die Thora von einer jüdischen Gemeinde zu fordern hat, das ist nicht Wohlwollen, das ist nicht Duldung und Gnade, sondern ihr Recht. Dem Rechte der Thora als ihrem alleinigen Souverän haben sich die Pforten der jüdischen Gemeinden zu öffnen. Und wie es ein Hohn ist auf das Recht eines unschuldig verurteilten Menschen, einerlei ob man ihn nach der Teufelsinsel verbannt, oder ob man ihm zu lebenslänglicher Duldung begnadigt, so ist es ein Hohn auf das Recht der Thora, einerlei ob ihr die Willkür das Recht zum Leben versagt, oder ob sie ihre Begnadigung zum Leben dem Wohlwollen dieser Willkür verdankt.

Diese Botschaft Rabbiner Hirschs von den unveräußerlichen Rechte der Thora im jüdischen Gemeinschaftsleben ist in unseren Tagen aktueller und zeitgemäßer als je. Denn es ist ja gar nicht wahr, was man heute so oft zu behaupten pflegt, daß die neologe Willkür und das neologe Wohlwollen sich zu Gunsten des Thorarechtes irgendwie geändert habe. Im Gegenteil. Mit Recht heißt es in der Festgabe für Claude G. Montefiore, die anläßlich der Tagung des Weltverbandes für religiös-liberales Judentum überreicht wurde, auf S.98: „In der Frühzeit des Liberalismus erschien es als eine kühne Neuerung, wenn man es wagte, am hebräischen Gebettext geringfügige Änderungen vorzunehmen, ein Anzahl Piutim fortzulassen und einige deutsche Gebete einzufügen. Die Grundform des überlieferten Gottesdienstes blieb unangetastet. Der Liberalismus der Gegenwart aber stellt die Forderung nach einer völligen Neugestaltung der Andacht auf. Er verlangt einen Gottesdienst, der aus dem Leben der Gegenwart entstehen und der religiösen Sehnsucht unserer Zeit Ausdruck geben soll.“ Die heutige Neologie gibt sich mit Kleinigkeiten nicht mehr ab. Sie läßt die Orthodoxen ruhig ihre Piutim sagen und an die himmlische Abkunft der Thora glauben – diese Dinge, die einst hüben und drüber die Gemüter erhitzten, stehen heute nicht mehr zu Debatte, heute geht’s aufs Ganze. Und wie die Neologie im Vertrauen auf das Heimatrecht, das ihr von den Gegnern Rabbiner Hirschs im Judentum gewährte wurde, sich intensiv verstärkt und vertieft hat, so ist sie auch extensiv umfangreicher geworden: sie hat mittlerweile Erez Jissroél in den Bereich ihrer Willkür und ihr Wohlwollen gezogen. In den Tafe Rabbiner Hirschs hat die Neologie die Erez-Jissroél-Idee ignoriert, im schlimmsten Falle negiert. In der Hand der heutigen Neologie hat die Erez-Jissroél-Idee eine förmliche sachliche Umgestaltung erfahren, und die Umgestaltung hat den Begriff des Judentums, des jüdischen Volkes, der jüdischen Nation als Ganzes auf den Kopf gestellt.

Für den Wahrhaft prophetischen Geist, der unseren großen Rabbiner זצ"ל beseelte, ist nichts so bezeichnend, wie die erstaunliche Tatsache, daß er in einer Zeit, in der es noch lange keinen Zionismus gab, den Begriff des jüdischen Staates und des jüdischen Landes gegen Säkularisationstendenzen in Schutz nahm, die damals noch im Schosse der Zeiten schlummerten. Seine flammenden Jeschurun-Aufsätze über die Botschaft des 10.Tebeth, des 14.Tammuz und des 9.Aw, sie haben die Erez-Jissroél-Idee vor dem Schicksal der Verweltlichung bewahren wollen, und sie sind darum erst im Zeitalter Weizmanns und Jabotinskys modern und aktuell geworden. Mit welch eindringlicher Wucht haben diese politische Aufsätze Rabbiner Hirschs auf die zentrale Stellung des Bes Hamikdosch und der Awaudoh im Leben des jüdischen Volkes hingewiesen, zu einer Zeit, als schon weite Kreise des deutschen Judentums den heiligen Opferhandlungen der Awaudoh sich innerlich entfremdet hatten. Denn sagen wir’s nur offen heraus: Daß eine Gottesdient, in dessen Mittelpunkt – um jenes verhängnisvolle Schlagwort zu gebrauchen – ein „blutiger Opferkultus“ stand, einmal ein ganzes Volk in einen Zustand tiefster religiöser Ergriffenheit versetzen konnte, sodaß sie alle im Augenblick, als dieser Opferkultus seinen Höhepunkt erreichte und der Hohepriester bei seinem Opfertiere stehend das Sündenbekenntnis ablegte, niederknieten, sich hinwarfen und so laut riefen, daß die Luft erzitterte: gesegnet sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig –: Dafür hat nicht bloß die moderne Neologie kein Verständnis, das ging schon in den Tagen Rabbiner Hirschs über das Begriffsvermögen der Neologie hinaus. Hier ist der Punkt, wo sich Weizmann und Jabotinsky mit Geiger und Holzheim berühren. Hier ist aber auch der Punkt, wo auch wir zuweilen eine Unsicherheit der seelischen Einstellung verraten, und ich möchte glauben, daß es im Zeitalter der nationalsozialistischen Angriffe gegen den „blutigen“ Kultus der Schechitah dem ganzen deutschen Judentum bitter not täte, den Aufsatz Rabbiner Hirschs über den blutigen Opferkultus sich geistig und seelisch anzueignen, um ein für allemal gegen jede Konzessionsbereitschaft in diesen Belangen gefeit zu sein. Wenn man diesen Aufsatz heute liest und sich von seinem stürmenden Worten belehren läßt, wie die erhabensten Momenten in Jissroéls Geschichte, von Abraham angfangen bis zum Untergang des Tempels auf Moria, durch den heiligen Akt der Schechita geweiht und geadelt waren, dann ahnt man erst, worum es sich beim Kampfe um die Schechita handelt. Denn wahrlich, wer das Wort „blutiger Opferkultus“ zum ersten Mal im Mund genommen hat, der hat sich mit diesem Worte nicht nur den biblischen Opfergottesdienst auf die Stufe kannibalischer Roheit und Verworfenheit herabgedrückt, der hat mit diesem Worte auf der  auch der Schechita selbst in den Augen der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit den ersten Stoß versetzt, der hat schon vor hundert Jahren eine verhängnisvolle Stimmung vorbereitet, aus der heraus in unseren Tagen die meisten jüdischen Gemeinden Deutschlands die Schechita nicht als ein Kriterium des Judentums, sondern als ein Sonderpostulat der Orthodoxie betrachten. Auch  hier hat man an Stelle des Thorarechtes das Wohlwollen der Willkür gesetzt. Und da hätte Rabbiner Hirsch unserer Zeit nichts mehr zu sagen?

 

V.

 

Ich möchte schließen mit einem Worte des Midrasch Tanchuma zu Emor. Da ist von den Zadikim die Rede, die das Glück haben, ihrer Umwelt das Gepräge ihres Geistes aufzudrücken, die nicht nur מטיבין לעצמן sondern auch עושין פירות ומטיבין לאחרים sind. Sie werden verglichen לפעמון של זהב והגיל שלו של מרגליות mit einer Glocke aus Gold, deren Klöppel aus Edelsteinen ist. Die Tonhöhe und Reichweite einer Glocke ist vor allem bedingt durch die Beschaffenheit der Wandungen, an die der Klöppel schlägt: von der Qualität ihres Stoffes, von ihrer Größe und Stärke und nicht zuletzt von der Art ihrer Mischlung. – Wenn es Rabbiner Hirsch vergönnt war, zu jenen Zadikim zu gehören, die das Glück haben עושין פירות ומטיבין לאחרים zu sein, wenn die Stimme seiner Glockenbotschaft rein und voll erklang, so hatte auch die Beschaffenheit der Wandungen, an die seine Stimme schlug, so hatte auch die Kehilla, der seine Botschaft zu allererst gegolten, ihren redlichen Teil daran. Weil die Mischung ihres Metalls rein vom Schaume war, darum konnte auch seine Stimme rein und voll erschallen. Was diese Stimme sprach, es gilt auch uns und wird auch denen gelten, die nach uns kommen werden. „Noch dauern wird’s in späten Tagen und rühren vieler Menschen Ohr“. –

Um es aber weithin hörbar zum Ausdruck zu bringen, daß das was Rabbiner Hirsch uns heute zu sagen hat, nicht bloß seiner Kehilla, sondern der jüdischen Gesamtheit gilt, zu diesem Zweck haben wir die Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft ins Leben gerufen. Wir fühlen uns bei diesem Streben, die Botschaft Rabbiner Hirschs für כלל ישראל zu reklamieren und zu popularisieren, mit seiner Kehilla aufs innigste verbunden. Solange seine Kehilla seine Kehilla bleibt, solange werden beide, – unsere Religionsgesellschaft und unsere Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft – die beiden פעמוני זהב, die mit ihrem Geläute den hohenpriesterlichen Gang unseres großen Rabbiners ז"ל durch die Geschichte begleiten. Im Namen des Vorstandes richte ich darum an Sie alle die Bitte: Treten Sie unserer Gesellschaft als Mitglieder bei!

Quelle:  Nachalath Z’wi Eine Monatschrift für Judentum in Lehre und Tat, herausgegeben vom Vorstand der Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft. I. Jahrgang 5691/1930-31, S. 84-101

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