Rabbiner Dr. Raphael BREUER
(1881-1932)
Sommerzeit
Die meisten Zeitgenossen
verbringen ihre Zeit, ohne zu ahnen, welch ein seltsames Ding doch der Begriff
der Zeit ist. Wir, denken hier weniger an die Rolle, welche die Zeit in der
Erkenntnistheorie spielt, als an die übermächtige Stellung, die sie im
praktischen Alltagsleben einnimmt. Denn kann man auch nicht verlangen, daß ein
von allerhand Sorgen und Kümmernissen geplagter Durchschnittszeitgenosse sich
darüber den Kopf zerbricht, ob die Zeit eine Form des inneren Sinns, wie
Augustin, oder eine Anschauung a priori, wie Kant, oder ein Produkt des
Vorstellungsmechanismus ist, wie Herbart meint, so muss doch schon Jemand ein
von philosophischen Neigungen völlig entleertes Hirn besitzen, wenn er nicht
wenigstens einmal darüber nachgedacht hat, wie komisch doch das Leben wäre,
wenn die Menschen nicht die eigentümliche Gewohnheit hätten, ihr praktisches
Tun und Lassen, ihr Handeln und Wandeln, ihr Schlafen und Wachen, dem Szepter
der allgewaltigen Zeit zu unterordnen. Obgleich, wie es scheint, es nur die
Zeit, ein äußeres Maß des Lebens
bestimmt, so ist es doch auf dies Leben selbst, mit dem, was in ihm
geschieht und unterbleibt, von nicht unbedeutendem Einfluss, ob und wie die
Menschen ihre Zeit zählen. So lange uns das innere Maß unserer Handlungen
fehlt, oder doch nicht überall in Anwendung klar ist, wieviel geschieht nicht
nach diesem äußeren Maß und geschähe vielleicht nicht ohne dasselbe. In solcher
Frist sei das geschehen ist Gesetzgebers Ausspruch, gleichviel, des äußeren
oder des inneren im Menschen, des rüstig kräftigen Willens und dies geschehe
alle solche Frist einmal und kehre mit ihr wieder! Ja, lebten wir wie mit
Uhrtriebwerk ohne Weiser, und zählten unsere Tage nicht, kein Zeitdenkmal und
Zeitstift wäre möglich, ein Tag wäre dem andern gleich, und, wie den
Unternehmungen das äußere Richtmaß
fehlte, so fehlte auch die Bestimmung der Tage, die, Zeitteile weihend,
über die übrigen hebt, und in wiederkehrenden Zeitdenkmälern aus der
Vergangenheit noch spätester Zukunft Früchte reifen läßt. Ebensowenig ist s
gleichgültig, wie wir unsere Tage zählen. Wären unsere Jahre kürzer oder
länger, als sie eben sind, manches geschähe in dem einen Falle rascher,
häufiger,, im anderen Falle langsamer, seltener oder gar nicht. Ja, unser
ganzes inneres und äußeres Leben, das Zählen selbst nur äußeres und willkürlich
genommen, wäre in einem Fall rascher im Umschwung, besonnen-schläfriger im
andern! Tief und treffend hat hier der Horeb (§ 250) die Wirkungen der Zeit
auf unser ganzes inneres und äußeres Leben umschrieben. Die Uhr ist unsere
Begleiterin durchs Leben, die uns ein äußeres Maß als Ersatz für das fehlende
Innere reicht. Sie ist das spornende und mahnende Agens, wodurch das, was ohne
sie ein maßloses Tun wäre, in eine zweckvolle Handlung verwandelt wird. Ohne
die Uhr wäre das Leben leer und schal, ein graues Einerlei, ohne Farbe und
Licht. Nur das Zählen der Zeit ermöglicht das Herausgreifen von einzelnen
Teilen der Zeit, die, zu Festtage geweiht, auch die übrigen Tage adeln und
erwärmen. Und was ist Geschichte anders, als ein sinnvolles Zählen der Zeit?
Wenn noch der spätesten Zukunft die Früchte der Vergangenheit reifen, wenn
unsere spätesten Enkel noch von unseren frühesten Vorfahren lernen werden, so
wird dieser Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft nur durch wiederkehrende
Zeitdenkmäler d.h. durch Veranstaltungen befestigt, die, wie unsere Fest und
Fasttage, die Geschehnisse einer vergangenen Zeit im Gedächtnis der Nachwelt
erneuern und beleben. Nehmt dem Juden seinen Kalender und ihr habt ihm seinen
Katechismus vernichtet. Ja, auch nur der Änderung unseres Kalenders ginge nicht
spurlos an unserem inneren und äußeren Leben vorüber. Denn nicht nur, daß wir unsere Tage zählen,
auch wie wir unsere Tage zählen ist von Belang. Unseres Lebens Pulsschlag und
unseres Handelns Tempo wird durch die Uhr, durch die Art und Weise, wie wir
unsere Stunden, Tage, Monde und Jahre zählen, reguliert. So ist der Mensch von
seiner Uhr nicht zu trennen. Auch Pflanzen und Tiere sind organische Geschöpfe,
doch sie leben ohne Uhr, ohne Zeitbewusstsein, ohne Maß und Ziel.
Es giebt sicherlich sehr viele
Menschen, die erst durch die Sommerzeit auf das Problem der Zeit aufmerksam
wurden. Im Leben des thoratreuen Juden übt die Zeit ein viel zu straffes und
umfassendes Regiment aus, als daß er je achtlos über sie hinweg sehen könnte.
Schon die pedantischen Synagogezeiten, 655, 929 usw., die
noch strenger eingehalten werden, als bei den Plänen der Eisenbahn möglich ist,
unterwerfen uns unentrinnbar dem Kommando der Zeit, und nur in den Kreisen der
Chassidim wird diese Kommandogewalt der Gebetszeiten als synagogaler
Militarismus bekämpft.
Wie komisch ist doch die Zeit,
wie komisch sind doch die Menschen, die sich ihr unterwerfen! Wäre es nicht
viel einfacher, statt den Uhrzeiger eine Stunde vorzurücken, die Uhr zu
belassen, so wie es ist und einfach eine Stunde früher aufzustehen und mit der
Tagesarbeit eine Stunde früher aufzuhören? Doch nein, nur dann erheben sich die
Menschen um 5, und nur dann hören sie auf zu Arbeiten um 6, wenn die Fiktion
geschaffen wird, um 5 sei 6 und um 6 sei es 7. Wir lassen uns gerne von unserer
eigenen Uhr betrügen. Es kommt uns viel weniger auf die Dinge selbst an als auf
die Vorstellung an, die wir uns von den Dingen bilden. In diesem
Selbstbetrug liegt die Komik der
Sommerzeit.
Die Erfinder der Sommerzeit
sind nicht wenig stolz auf ihre Erfindung. Ob sie ahnen, wie wenig originell ihre
Erfindung ist? Von Eingriffen in den normalen Ablauf erzählt uns schon die
Bibel. Damals redete Josua vor dem Herrn am Tage, da der Herr hingegeben den
Emori vor den Kindern Jissroéls; er sprach vor den Augen Jissroéls: Sonne,
stehe still in Gibeon und Mond im Tale Ajalon! Und es harrte die Sonne und der
Mond stand still, bis sich gerächt das Volk an seinen Feinden
Und die Sonne
stand still in der Mitte des Himmels und eilt sich nicht zum Untergang wie am
vollen Tage. Wie dieser Tag war keiner zuvor und keiner nachher, daß der Herr
die Stimme des Menschen gehorchte, denn der Herr stritt für Jissroél. (Josua
10, 12-14) Hiskija fragte Jesaja: Welches ist das Zeichen daß der Herr mich
heilen wird und daß ich am dritten Tage in das Haus des Herrn hinaufgehen
werde? Jesaja antwortete: Das sei Dir das Zeichen vom Herrn, daß der Herr das
tun wird, was er gesprochen: soll der Schatten (der Sonnenuhr) zehn Stufen
vorrücken, oder soll es zurückgehen zehn Stufen? Hiskija sprach: Es ist ein
Leichtes, daß der Schatten zehn Stufen falle; nicht doch, der Schatten kehre rückwärts zehn Stufen. Da
rief der Prophet Jesaja zum Herrn, und er ließ umkehren den Schatten an den
Stufen, wo er hinabgerückt war an den Stufen des Achas, rückwärts zehn Stufen
(Kön. 20, 8-11).
Wie eine stümperhafte
Nachahmung dieser biblischen Wunder mutet uns heute die Sommerzeit an. Was wohl
die Menschen heute unternähmen, wenn sie nicht bloß die Uhr sondern auch die
Sonne regulieren und korrigieren könnten? Sicherlich würde sie gleich dem freien
Meere ein Streitobjekt nationaler Ambitionen werden. Seien wir darum froh, daß
ein Jenseitskörper ist und nicht ein Bestandteil unseres Planeten ist.
R.B.
Quelle: Jüdische Monatshefte Jahrgang 3 Heft 5 Ijar 5676 Mai
1916 S.129-132