maandag 20 maart 2023

Rabbiner Pinchos KOHN: Unser Verhältnis zum גלות


Rabbiner Pinchos Kohn

       (1867-1942)

 

Unser Verhältnis  zum גלות

 

Das provisorische Comité der Agudas Jissroél hat in seiner Casseler Tagung, dem Sinne nach (endgiltige Formulierung wurde einer Redaktionscommission überantwortet) sich einstimmig dahin ausgesprochen, daß jüdisches Volkstum in der Religion verankert und mit dem allgemeinen Nationsbegriff incommensurabel ist, so daß jeder poltische Nationalismus, welcher staatsrechtliche Forderungen stellt, abzulehnen ist. Binsenwahrheit! Und doch ist es dringend vonnöten, selbst dieser Binsenwahrheit ergiebigen Commentar zu geben.

Als des babylonischen Eroberers Fuß sich auf den Nacken Jissroéls zu setzen drohte, da gab es viele, sehr viele, denen die materielle Loslösung von Jerusalem und Zion ein hartes, unmögliches Ding erschien. Aber da gab es auch einen Propheten, welcher einerseits dem Volke die materielle Seite des Exils klar zeichnete, indem er ohne Scheu kündete, daß aus dem Volke eine Gola geworden war, bestimmt in anderen Existenzformen diejenige Ideale zu erfüllen, die es als Volk verleugnet hatte, andererseits aber auch dieser neuen Form der Vergesellschaftung den Inhalt der Interessengemeinschaft ebenso klar ohne Scheu kundgab Man täte gut daran, bei der Lektüre von Jeremia Cap. 29 nicht bloß immer auf die Verse 5-7 zu beschränken, sondern auch die Verse 12 u. 13 einer genaueren Beachtung zu würdigen. „Ihr sollt mich rufen, auch aufraffen zum Entschluß hinzugehen zu mir zu beten, ich höre auf euch, sollt mich suchen. Ihr werdet mich finden, so ihr nach mir verlangt mit Eurem ganzen Herzen“, Fast noch deutlicher sagt es Jecheskel, daß die Gola eine Gemeinschaft sei, welche weitab von den algemeingiltigen staats- und völkerrechtlichen Beziehungen (משפטי הגוים) ihre Interessen zu suchen und zu pflegen habe. Freilich, täuschen wir uns nicht, es gehört der allergrößte Mut dazu, Gott zu dienen und den Solidaritätsgedanken der jüdischen Gemeinschaft lediglich aus den gemeinsamen Verpflichtungen zum Gottesdienst abzuleiten, so, wie es die Propheten taten. Man mag da sich mit mehr oder weniger Grazie wenden oder kunstvolle Wortgebilde ersinnen, es werden immer jene gebrochene Cisternen bleiben, die das lebensspende Wasser nicht u bergen vermögen. Wahr ist und bleibt, daß (jüdische) Volksschaft  der Gola ein lediglich latenter Factor ist, den alle Resolutionen jüdischer Kreise ebensowenig, wie die Beschlüsse von Kongressen oder Konferenzen zum Leben erwecken können und sollen, weil außenstehende Factoren dem Volke niemals den Inhalt geben könnten, welcher das Wesen des jüdischen Volkstums bildet und es so klar von allen Völkern unterscheidet. Es bedeutet Assimilation im äußersten Sinn des Wortes, wenn man Wollen und Werden  des jüdischen Volkes am allgemeinen Weltgeschehen mißt.

Es war daher ein äußerst klares Erkennen seitens der Assimilation ,als sie auf einem der Baseler Congresse sehr energisch Front machte gegen Rabbi Jochanan ben Sakkai, weil dieser in der Werdestunde des zweiten Gola das Volkstum „verraten“ hätte, weil er von dem römischen Eroberer nur Jabneh und seine Weisen als Reservation für das Judentum verlangt habe. Die traditionsgläubigen Teilnehmer jenes Congresses brachen in Entrüstungsrufe aus und verlangten stürmisch eine Ehrenrettung für Rabbi Jochanan b. Sakkai. As sie diese in parlamentarisch einwandfreier Form erhalten hatten, waren sie zufrieden und die Acten über diesen Fall waren geschlossen. Man hätte auch anders verfahren können, man hätte sogar im gewissen Sinn für die klärende Offenheit dankbar sein Können, man hätte den Mut bewundern können, mit dem der grandiose Versuch, das Ganze des Judentums assimilatorisch an das allgemeine Weltgeschehen anzugliedern, so hüllenlos in seinen letzten Zielen dargestellt wurde. Damals schon wäre es Zeit gewesen, höchste Zeit, daß die traditionsgläubigen Teilnehmer des Congresses sowohl, wie die gesamte Orthodoxie nun auch ihrerseits daran gegangen wäre, ihr Verhältnis zum Golus zu klären. Es ist nicht geschehen, aus tausenderlei Gründen nicht, ein furchtbar ernstes Versäumnis. Und also kam es, daß heute es fast als ein vergebliches Beginnen erscheint, gegenüber einem zum mindesten wenig erquicklichen Ansturm persönlicher Verunglimpfungen und sachlicher Entstellungen den alten Ideengehalt nochmals in die Wogen der Tagesstürme zu tragen.

Hatte wirklich Rabbi Jochanan  Sakkai kein Herz für die alle Leiden, welche ein Exil, ein Zustand der Rechtlosigkeit oder doch wenigstens der Rechtsverkümmerung für jeden Einzelnen im Gefolge haben mußte? War ihm wirklich jene feinste Blüte des Solidaritätsbewußtseins, die אהבת ישראל, die alle umfassende Liebe fremd geworden? Es war ja in jener wehen Stunde des Beginnens der vierten Gola ein Prophet nicht da, welcher den Zagenden eine unmittelbare Weisung hätte geben können, allein R. Jochanan b. Sakkai wußte, das aufgezeichnet war נבואה שרוצה פה לדורות, Prophetenwort, das bahngebend war für alle Zeiten. So wußte er auch dem Exil die recte Deutung zu geben; er hatte ja schaudernd erlebt, wie wenig nationalen Sinn und Wollen imstande gewesen war, die Blüten verzeihender Menschenliebe vor dem Reif zu bewahren, hatte gesehen, wie unter  der Herrschaft des stärksten nationalen Selbstbewußtseins tobringende Entfremdung, blindester Haß ihr Unwesen treiben könnte. Und da glaubte er, daß wieder einmal die Stunde gekommen war, in der die äußere Form des jüdischen Volkstums sich allzu sehr den allgemeinen Formen angenähert hatte und deshalb seinen wirklichen Daseinszweckes beraubt, seines wesentlichen Inhalts verlustig gegangen war. Mit einem Herzen voll Liebe wollte er die הצלה פרותא vorbereiten, die scheinbar so geringfügige und doch so sichere Rettung, er wollte durch Einstellung des Volksganzen auf seinen Inhalt dem Volke Dasein und Daseinszweck verbürgen. Vespasian verstand ihn nicht, verstand nicht, daß R. Jochanans Wunsch von volkserhaltende Tragweite war, sonst hätte er ihm sicher nicht Jabneh und seine Weisen concediert. So wie Vespasian erging es nun seit 2000 Jahren unzähligen Juden. Und auch die heutige Bewegung ist letzten Endes nichts anderes als eine unbewußte Auflehnung der Gola gegen das Galuth. Es ist klar, wenn man dem Exil keinen Sinn abgewinnen kann, dann muß man dagegen rebellieren; wenn man ferner nicht weiß oder nicht wissen will, daß die exilierte Idee der Einheit des göttlichen Willens (גלות שכינה) mi dem jüdischen, staatlichen Volksdasein noch keine Stätte gefunden hat, so muß ein Sabbatai Zewi, wie es einst auch in Erscheinung trat, unzählige Anhänger finden.

Daher muß über unser Verhältnis zum Galuth die Vorfrage gelöst sein, ob wir verpflichtet sind, in der latenten Form des jüdischen Volkstums, in der Gola einen Selbstzweck zu erblicken, oder sagen wir lieber, einen provisorischen Selbstzweck, nachdem das Endziel, die Erwürdigung und Ertüchtigung zur Identität der staatlichen Existenz mit der Erfüllung des Inhalts des jüdischen Volkstums außer aller Debatte steht. Da wäre nun zu bemerken, daß unter Umständen eine im Galuth erzielte religiöse Integrität der Gola ethisch höher steht als eine ohne Widerstände gelebte Vollkommenheit im eigenen Staate. Diese ethisch höchste Potenz zu erzeugen ist Selbstzweck der Gola und die sittliche Höhe der einzelnen Staaten läßt sich daran bemessen, wie weit sie dieser Erzeugung Schwierigkeiten in den Weg legt oder sie wohlwollend fördert. Und da hätten wir an die Adresse des Völkerbundes ein ernstes Wort zu sagen, eine große Forderung zu stellen. Soll wirklich die Welt künftig unter dem Zeichen der Erzeugung ethischer Güter stehen, so bedarf es einer vollkommenen Umgestaltung des Staatbegriffs, einer Revision hinsichtlich der Competenzen des Staates. Der Staat müßte zum mindesten es sich versagen, in die Pflege des religiösen Gedankens einzugreifen. (Es müßten also – um heute nur einige Grundlinien zu zeigen, ausführliche Formulierung bleibt vorbehalten – zunächst zwei Voraussetzungen erfüllt werden. Erstens müßte freies Wort auf der Kanzel gestattet werden, zweitens müßte der Freiheit der Erziehung ein viel größerer Spielraum gewährt werden, als bisher. An Stelle des Schulzwangs müßte Bildungszwang treten. De Staat sollte wohl das Recht haben, von dem dreizehnjährigen Menschen  ein gewisses Maß von Kenntnissen zu verlangen, aber es müßte den Eltern überlassen bleiben, wie und durch wen sie dieses Wissen ihren Kindern vermitteln lassen wollen). Bei absoluter Trennung von Kirche und Staat, müßte der Staat den ethischen Gedanken der Toleranz um eine Nüance steigern. Es müßten Wegen gefunden werden und where is a will, there is a way – um den Grundgedanken des Völkerbundes – einander verstehen wollen, einander fördern wollen  auf die einzelnen Individuen zu übertragen: so ginge Staatsinteresse und Religionspflege parallel zu demselben Ziele. Nicht der Kapitalismus allein und nicht der Nationalismus allein sind Schuldquelle des Krieges, es sind nur Einzelerscheinungen, die als Helfershelfer in den Dienst jenes Omnipotenzgedankens des Staates, welcher das Innenleben nicht genügend in Rechnung stellte oder es nur dann würdigte, wenn offen oder verschleiert darin ein Hebel für den materiellen Aufschwung gefunden wurde. Als Subjekt und Objekt dieses Innenlebens zugleich geht die Gola durch die Welt. Es ist geschichtliche Tatsache, daß die Völker bei Mißbrauch des Objekts sanken und versanken, daß Jissroél bei Verkennung dieses Galuth-Selbstzweckes sank und verkam.. Wir Golamenschen müssen deshalb – selbst um den Preis als reiner Tor verlacht zu werden – auch dem Völkerbund gegenüber betonen, daß Judenfrage nur eine Abschnitt in dem Aufwärts und Abwärts der Menschenfrage ist. Jede Lösung der Judenfrage, welche dieses Moment außer acht läßt, kann vielleicht für einen Augenblick materielles Leid mindern, aber je weiter sich diese Lösung von dem durch eine außerhalb Jissroéls stehende Macht der Gola gesetzten Ideal entfernt, desto größeres Unheil bedeutet sie für Jissroél und für die Menschheit. Von den Menschen haben wir Liebe und Achtung zu fordern, Erlösung können uns Sterbliche nicht bringen. Seit dem Sieg der römische Legionen stand Jissroél niemals vor einer so schweren Stunde; den Völkern, auch den wohlmeinendsten, muß gesagt werden, wessen die Welt bedarf, die eine Judenfrage wahrlich nicht aus Übermut oder Überwollen construiert hat, sondern der diese Judenfrage als außerordentlich schwieriges geschichtliches Vermächtnis überantwortet ist. Die Denkenden werden es verstehen. (Daniel XII, 11).   P.K.

 

Quelle: דרש טוב לעמו  Jüdische Monatshefte, herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a.M. Jahrgang 6 Heft 1 u. 2 S. 1-6

 

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