zondag 26 januari 2025

Rabbiner Dr. Pinchos Kohn „ Zum 27. Tebeth“

 


Rabbiner Dr. Pinchos KOHN

         (1867-1942)

Zum  27. Tebeth

 

Es gibt nichts  ergreifenderes, als wenn Kinder, die schon früh, noch ehe das Bild ihrer Eltern deutlich in ihr Bewusstsein treten konnte, Vater und Mutter verloren haben, Jahrzeit zu halten Sie sind auf Schilderungen anderer hingewiesen, wenn sie sich ein Bild ihrer Eltern gestalten wollen. Das fremde Auge sieht aber dieses Bild nicht mit den Augen des Kindes. Nur halb und ungefähr, notdürftig und nur mit Zuhilfenahme der Phantasie schließen sich einzelne, versprengte, abgerissene Eindrücke zu einem traumhaft ungewissen Gesamteindruck zusammen.

So ähnlich ergeht es uns Nachgeborenen, wenn wir den Jahrzeit des 27. Tebeth begehen. Aus der Ferne grüsst uns ein Bild, schon halb in den Schatten der Geschichte getaucht, halb märchenhaft, halb lichtumflossen. Andere, die seine persönliche Nähe empfanden, erzählen uns wie er war; und diejenigen unter ihnen, die ihm am genauesten kannten, fügen ihrer Schilderung das Schlusswort an: Lest seine Bücher, seine Schriften, da habt ihr den ganzen Mann.

Sechs Jahrzehnte lang hat Hirsch geschrieben und immerfort geschrieben. Vieles für und gegen andere, nichts über sich selbst. Jene eitle Selbstbespiegelung, die noch immer ein Kennzeichen des modernen Literatentums ist, war ihm vollkommen fremd. Dennoch, wäre es falsch, zu sagen, dass hinter seinem Werk seine Person verschwände. Sie meldet sich immer wieder zum Wort. Es gibt Stellen in seinen Schriften, die nur er und niemand anders hätte schreiben können.

Gerade dieses Stellen, die uns die Umrisse seiner Persönlichkeit verraten, haben ihm eine kleine, aber treue Gefolgschaft, ermöglicht. Ein Parteigründer und Parteiführer war er nicht. Mit der suggestiven Methode eines Chassidimrabbi lockte er wahrverwandte Naturen in seinen Kreis. Ein Chassidimrabbi braucht nur einmal mit seine Hand auf die Schulter eines Empfänglichen zu legen, um ihn für immer an seine Person zu fesseln.

Mann muss Hirsch als Kind gelesen haben: dann wird man ihn nie vergessen. Dann versteht man, warum er den Gedanken weit von sich wies: in der Bibel steht ein Wort, wonach böse sei der Mensch von Jugend an, und warum es Jißroels Jünglinge und Jungfrauen waren, denen er die ersten heißen Flammen seines Wortes weihte. Und man versteht auch, warum der Kreis derer, die ihm folgen, nur langsam, schneckenhaft langsam sich erweitert.

Denn gerade das, was ihm die einen gewinnt, entfremdet ihm die Andern. Die geistige und seelische Stimmung unserer Zeit ist Hirsch nicht günstig. Alles wird heute mit sorgfältiger Abscheidung  der Kompetenzen in sein engbegrenztes Rayon verwiesen: Die Wissenschaft, die Poesie, die Musik, die Politik, die Religion. Wird irgendwo ein außerordentlicher Mensch geboren, dann muss er sich für irgendein „Fach“ entscheiden. Darin darf er dann glänzen. Sträubt er sich dagegen, flattert er frei davon, ehe man ihm die Flügel stutzte, wagt er es, eine Wissenschaft vorzutragen, die voll Poesie und Musik, eine Politik vertreten, die von Religion durchtränkt und gesättigt ist, und lässt er die heißen Flammen seiner Jugendjahre noch in sein reifes Mannes- und Greisenalter hinüberschlagen: – dann wird es nur wenige geben, die hinter der scheinbaren Willkür ein bestimmtes System vermuten. Die meisten werden mit künstlichem Feuerwerk verwechseln, was in Wahrheit das natürliche Licht eines vom Himmel zur Erde gefallenen Sternes ist. Nur kindlichen Naturen sind vor dieser Verwechslung geschützt. Eher sind sie geneigt Kunst mit Natur zu verwechseln. Kindliche Naturen sind aber heutzutage rar.

Drüben im Osten sind sie dichter gesäet. Es ist dennoch keineswegs ausgeschlossen, daß einmal aus dem Osten jemand kommen wird, um uns zu verraten, was der Westen in Hirsch besaß. Setzt ja das Verständnis seines Wesens das Vorhandensein einer großen Portion natürlichen Judentums voran. Nur die Wenigsten ahnen, wie frei von jeder assimilatorischen Neigung, von neujüdischer Verkünstelung der Altjüdischen er war. Das Wesentliche an ihm klar herauszustellen, dazu bedürfte es wohl zunächst einer genauen Kenntnis der Grenzlinien zwischen Ost und West: einer Kenntnis, zu der man drüben leichter erlangen kann als bei uns, weil es dem Osten leichter  fällt dem Westen, als dem Westen den Osten zu verstehen. Wer aber kann der Vorsehung in die Karten schauen? Vielleicht besteht die Mission Hirschs gerade darin, der gute Geist des deutschen Judentums zu sein. Vielleicht sind wir es nur, zu denen er sprach. Vielleicht hat sein Prophetenwort sich nur, zu gedulden, bis es im eigenen Lande gilt. Denn bis alle Grenzpfähle von der Erde schwinden, das kann noch lange dauern. Es wäre aber ein Verhängnis  für uns, auch nur einen Augenblick ohne die starke Hand eines kundigen Führers zu sein.

Als die Seinen, die seiner Wesenart am nächsten stehen, begehen wir alljährlich seinen Jahrzeitstag. Dieser 27. Tebeth jährt sich in diesem Jahre zum 25. Mal. Dieser Grabhügel ist schon ein Vierteljahrhundert alt; und er, dessen Gebeine er deckt, ist noch so jung wie am Tage, da er zum ersten Male nach der Feder griff. Dieser Feder hat uns das Bild seiner Persönlichkeit für immer festgehalten. Ihr danken wir es, wenn er nicht ganz im Schatten der Geschichte versank, wenn die in Zukunft Kommenden ihm so nahe sein werden, wie die in der Gegenwart Lebenden, wie die in der Vergangenheit Gewesenen. Ja, vielleicht wird er den Kommenden noch näher sein als den Lebenden und Gewesenen. Noch klingt den Lebenden sein Name wie eine schrille Fanfare ins Ohr. Vielleicht wird in der Zukunft sein Name Bild ein Symbol des Friedens und der Liebe sein.

 

In: „Jüdische Monatshefte“ Tewes 5674- Januar 1914

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