Rabbiner Dr.
Mendel HIRSCH
(1833 – 1900)
בהר
Aus dem Kommentar zur Haftoro des
Wochenabschnittes Behar
Jeremias, Kap. 16, Vers 19 und
folgende
Die Sidra enthält die große
Geschickesoffenbarung, die sich an uns vollziehen werde, je nach der Gott und
seinem Gesetze zugewandten Treue oder Untreue. Das Prophetenwort entströmt
einem Manne, der Zeuge der großen Katastrophe, des Untergangs von Tempel und
Staat war.
Jedoch ist es nicht ein Wort der
Klage, das uns entgegentönt, nicht der auf den Trümmern Jerusalems klagende
Prophet ist der Jeremias, dessen Wort wir hier vernehmen. Es ist vielmehr der
über die trübe Gegenwart hinausschauende, von schwellendem Hochgefühl erfüllte
nationale geistige Heros.
Wohl schaut er alle Kämpfe, alle
Verfolgungen, denen sein Volk ausgesetzt sein wird in der Flucht der Zeiten,
aber er schaut auch, wie das äußerlich Unterdrückte in Wahrheit der Sieger, und
wie die Erhaltung des aller sonstigen Stützen beraubten, nur von Gott getragene
Jissroél eine so laute Verkündigung der Wahrheit des von ihm getragenen
Gotteswortes sein werde, daß den Völkern endlich die Binde von den Augen sinken
und sie erkennen werden, daß von allen Überlieferungen ihrer Väter nur das aus
dem Judentum stammende Wahrheit, alles andere Lüge sei.
Kap.16, V.19 אך
שקר נחלו וגו' Rückwärts schauend werden die Völker zur
Erkenntnis kommen, daß das, was ihre Väter von deren Väter ererbt und auf sie
weiter überliefert hatten, Lüge war. Es gibt Traditionen des Wahns. Der
bekannte Lessing’sche Satz, daß ein Jeder berechtigt sei, den Überlieferungen
seiner Väter zu folgen, ist nur in dem Sinne zulässig, daß jeder den anderen zu
dulden habe, keiner sich das Recht anmaßen dürfte, zu bestimmen, was der andere
für wahr halten solle. Objektiv jedoch birgt der Satz die Verneinung der
inneren Wahrheit aller Überlieferungen. Denn wenn es eine Wahrheit ist,
daß a = a ist, so kann es nicht
gleichzeitig eine Wahrheit sein, daß a = nicht a sei. Hier aber wird die feste
Zuversicht aus Jissroéls Seele ausgesprochen, die Wahrheit, auch wenn
Jahrtausende mit Feuer und Schwert verfolgt, werde endlich als Wahrheit, und
der Wahn, auch wenn Jahrtausende mit Schwert und Feuer behauptet, werde endlich
als Wahn erkannt werden.
ואין
בם מועיל Sie werden es erkennen, daß ihre
Traditionen außer Stande sind, ihren Bekennern das Heil zu begründen.
V.20 היעשה לו
אדם אלהים. Denn wie könnten Menschen sich Götter
machen, da sie doch selbst nicht Götter sind! „Das ist der Riss in die Binde,
die seit Jahrtausenden die Augen der Menschen gefangen hält. Ist ja die Binde
nichts anderes, als der Wahn, es habe der Mensch sich seinen Gott zu
produzieren! Es könnte der Mensch, es könnten die Menschen, es könnte die
Menschheit in Allvereinigung, wenn sie nur ihre besten geistigen und materiellen
Kräfte einig zusammentäten, sich eine ewige Stütze ihres Daseins, sich einen
ewigen Träger ihrer Wohlfahrt, sich den Gott ihres Seins und ihres Heiles
schaffen! Diesen ihren Gott sucht die Menschheit, seitdem die Pforten des
Paradieses hinter ihnen zugefallen, und sie die Stimme Gottes nicht mehr
wandeln hört in dem von Ihm für sie gepflanzten Eden. Diesen Gott sucht der
Wilde in seinem Fetisch, sucht der Heide in seinem Bilde, sucht der moderne
europäische Denker in dem Prinzipe, auf welches er das schwanke Weltenheil
dauernd gründen möchte. Alle vergessen sie, daß nur ein Gott Götter zu schaffen
vermöchte, vergessen, daß sie selber nicht Götter, selber nur beschränkte
Geschöpfe deß seien, der sie und die Welten schuf, daß die Welt längst vor ihnen
und ohne ihnen geschaffen dastehe und alles Weltenheil nur dauernd auf den zu
gründen sei, der die Welt und sie geschaffen.“ –
Jeschurun III. S.550 f. Wir verweisen auf die dort gegebene Erläuterung
dieses Kapitels.
V.21 בפעם הזאת Dieser welthistorische „Schritt“ ist
die Zerstörung von Staat und Tempel und die Erhaltung des jüdischen Volkes. In dem einen offenbart sich die
Gerechtigkeit, in dem anderen die Liebe und Gnade übende Gotteswaltung; Je wird
hier ידי, diese גבורתי genannt. In charakteristischem Gegensatz zum Heidentume, das in
der Schrecken einflössenden Göttermacht das Hauptattribut ihrer Größe findet,
begreift die jüdische Wahrheit gerade das Sein und Kraft spendende, gnadenreich
erhaltende Liebeswalten Gottes als eigentliche Offenbarung der göttliche
Allmacht. Was jene Rechtswaltung der יד ה' lehrt, wird unten V. 5-8 ארור הגבר וגו', was die Liebeswaltung der göttlichen Allmacht, גבורת
ה', lehrt, wird V. 7-9, ,ברוך הגבר וגו'ausgesprochen.
Kap.17, V.1 חטאת
יהודה וגו' ולקרות מזבחותיכם Eigentümlicher
Weise haben die Erklärer durch Übersehen oder missverständliche Auffassung des כם- , während bis dahin in der dritten Person gesprochen wird;
sich das Verständnis des tiefen Sinnes dieses Verses verschlossen. Der Gedanke
ist: Nichts ist so bekannt und wird mit solcher Beflissenheit stets aufgefrischt,
wie das Sündenregister der „verdammten Juden“. Und dennoch verdanken die Menschen alles, was sie von
Gott und von dem Verhältnisse des Menschen zu Gott, also von dem eigentlichen
Menschenwesen und der ewigen Menschenbestimmung wissen, nur „euch“, sind sie
für alles dieses hingewiesen auf die Wahrheit, die von der Höhe eurer Altäre
strahlt.
V.2 כזכר בניהם
מזבחתם וגו'. Dieses „ihre Altäre“ steht im Gegensatz
zu den eben genannten „euren Altären“. Wenn ihre Enkel einst zurückschauen und
die Väter ihrer Vorzeit an den Götteraltären des Wahnes und eines
entsittlichenden Kultus knien sehen, dann ragst du, Juda, ihnen in deiner
Einzigkeit einsam empor, steht ihnen da wie ein aus unbekannten Höhen
herabgestiegener Bewohner der Berge, der freilich fremdartig absticht gegen all
das Leben, das in der Ebene sich entfaltet, der kein Teil nimmt an all dem Üppigen,
das in der Ebene blüht, in dem aber ein Höheres, Frischeres, Gesünderes,
Ursprünglicheres weht. Bist freilich arm an Allem, was dort in der Ebene gilt!
Deine Heere sind gefallen deine Schätze sind geplündert, du bist tief
hinabgesunken – nichts ist dir von deiner früheren Größe in die Niedrigkeit
gefolgt als – dein eigentliches, dein geistiges Erbe, das dir Gott gegeben. Es
hast du mit hinausgerettet aus dem Zusammensturz deines übrigen Glückes und mit
diesem deinem geistigen Schatz in Busen tratest du in Knechtesdienst bei deinen
Feinden, auf daß du überall das Gotteswort der Erlösung bringest und die Menschen durch dich die Wahrheit
lernen:
V.5.
ארור הגבר וג, Fluch blüht so lange auf Erden, als die
Menschen auf Menschen bauen, nur in dem Schaffen des Menschen ihren Träge
erblicken und sich nicht fest und einzig an Gott anklammern.
(Die
Haftoroth übersetzt und erläutert, Frankfurt am Main 1896: S. 230 -234 )